Das Haus der Madame Rose
kam mit leeren Händen zurück. Ich setzte mich in das Kaffeehaus an der Place Gozlin, nahe dem Haus, wo Du aufgewachsen bist, und las die Zeitungen – alle handelten nur von Balzacs Tod. Wie Du weißt, ist er einer meiner Lieblingsschriftsteller, aber bei allem, was Du an quälendem Schmerz durchmachen musst, kann ich über Monsieur Balzacs Dahinscheiden einfach keine Trauer empfinden. Der arme Kerl war ungefähr in meinem Alter. Und auch er hatte eine Frau, die er so leidenschaftlich liebte, wie auch ich Dich mit einer Leidenschaft liebe, die mein ganzes Leben entflammt.
Rose, meine Liebste, ich bin ein wehmütiger Gärtner, der nicht mehr weiß, wie er seine geliebte Blume zu voller, reicher Blüte bringen kann. Du bist erstarrt, Rose, als würdest Du es nicht mehr wagen, zu erblühen. Als würdest Du es nicht mehr wagen, Dich mir zu schenken, mich mit Deinem verführerischen Duft zu betören, wenn sich Deine Blütenblätter langsam entfalten. Ist daran der Gärtner schuld? Unser geliebter Sohn ist tot, und mit ihm starb ein Teil unseres Lebens. Doch unsere Liebe ist noch immer stark, oder etwa nicht? Sie ist unsere größte Stärke, wir müssen sie aufrechterhalten, um weiterzuleben. Denk daran, wie unsere Liebe unserem Kind vorausging, durch unsere Liebe kam er überhaupt erst auf die Welt. Wir müssen unsere Liebe hegen und pflegen, sie nähren und feiern. Ich teile Deinen Kummer, ich trauere als Vater um unseren Sohn, aber können wir ihn nicht auch als Liebende betrauern? Schließlich war er die Frucht zweier wundervollen Liebenden. Ich sehne mich nach dem süßen Duft Deiner Haut, meine Hände verlangt es, die Rundungen Deines geliebten Körpers zu streicheln, meine Lippen brennen darauf, Dir tausend Küsse an geheimen Stellen zu schenken, die nur ich kenne und liebe. Ich möchte spüren, wie Du Dich mir unter meinen zärtlichen Liebkosungen entgegendrängst, in der liebevollen Kraft meiner Umarmung. Ich dürste nach Deiner Liebe, ich will die Süße Deines Fleisches schmecken, die Vertrautheit Deiner Weiblichkeit, will wieder die fiebernde Ekstase erleben, in die wir uns als Liebende dort oben im Königreich unseres Schlafzimmers immer brachten, als Mann und Frau, die sich in tiefer, wahrer Liebe verbunden sind.
Du bist mir das Wichtigste im Leben, Rose, und ich werde mit aller Macht darum kämpfen, Deinen Glauben an unsere Liebe und unser Leben wiederherzustellen.
Für immer der Deine,
Dein Mann Armand
Ich empfand das dringende Bedürfnis , eine Pause zu machen, ich konnte eine Weile nicht mehr schreiben. Doch nun gleitet meine Feder wieder übers Papier, und ich bin wieder mit Dir verbunden. Ich schrieb Dir nicht viele Briefe. Wir waren ja nie getrennt. Ich habe alle Deine kleinen Gedichte aufbewahrt – nun, es sind keine richtigen Gedichte, eher kleine Liebesbezeigungen, die Du hier und da für mich verstecktest. Wie ich sie vermisse! Wenn meine Sehnsucht zu groß ist, werde ich schwach und hole sie. Ich bewahre sie in einem kleinen Lederbeutel zusammen mit Deinem Ehering und Deiner Lesebrille auf. »Rose, liebe Rose, das Strahlen in Deinen Augen ist wie die Morgenröte, aber nur ich kann es sehen.« Oder: »Rose, bezaubernde Rose, die Du keine Dornen hast, nur Knospen der Anmut und Liebe.« Ein Fremder würde sie wahrscheinlich kindisch finden. Das ist mir egal.
Wenn ich sie lese, kann ich noch immer Deine schöne tiefe Stimme hören. Ach, Armand, Deine Stimme vermisse ich am meisten. Warum können die Toten nicht zurückkommen und mit uns sprechen? Du könntest leise mit mir reden, wenn ich morgens Tee trinke, und nachts, wenn ich in der Stille wach liege, könntest Du mir noch mehr Worte zuflüstern. Und wie gern würde ich Maman Odettes Lachen hören und das Plappern meines Sohnes. Die Stimme meiner Mutter? Nein, überhaupt nicht. Ich vermisse sie nicht im Geringsten. Als sie schon sehr betagt in ihrem Bett an der Place Gozlin starb, fühlte ich nichts, nicht einmal einen Anflug von Trauer. Du standest neben mir und meinem Bruder Émile und sahst mich an, als könntest Du in meinem Gesicht lesen. Ich wollte Dir sagen, dass nicht meine Mutter mir fehlte, nein, sondern nach wie vor Deine Mutter, Maman Odette, die fast zwanzig Jahre zuvor gestorben war. Ich glaube, Du wusstest es. Außerdem trauerte ich noch immer um unseren Sohn. All die Jahre seit seinem Tod besuchte ich jeden zweiten Tag sein Grab, ich lief bis ganz hinunter zum Cimetière du Sud beim Wall von Montparnasse. Manchmal kamst Du
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