Das Haus der Madame Rose
Barous Haus stand noch eine wacklige Wand. Die Druckerei war vollkommen verschwunden. Monsieur Monthiers Schokoladengeschäft bestand nur noch aus einem Stapel verkohlten Holzes. Chez Paulette hatte sich in einen Steinhaufen verwandelt. Auf unserer Straßenseite standen die Häuser noch wacker, sie wirkten aber auf einmal so hinfällig, dass mir der Schreck in die Glieder fuhr. Die meisten Fenster waren zerbrochen, zumindest die, deren Fensterläden nicht geschlossen waren. Die Fassaden waren mit Enteignungsverfügungen und -anordnungen zugekleistert. Unrat und Papierfetzen türmten sich auf dem einst sauberen Straßenpflaster. Es war herzzerreißend, Liebster.
Langsam gingen wir die verlassene, gespenstisch ruhige Straße hinunter. Die kalte Luft schien immer dicker zu werden. Meine Sohlen rutschten auf dem glatten Pflaster, aber Gilbert hielt mich trotz seines Hinkebeins ganz fest. Wieder fiel mir auf, wie groß er war. Ganz unten an der Straße schrie ich vor Schreck leise auf. Die Rue d’Erfurth war komplett vom Erdboden verschwunden, bis ganz vor zur Rue des Ciseaux. Nichts mehr war übrig außer Schutt und Müll. All die vertrauten Läden und Geschäfte waren weg, auch der Brunnen und die Bank, auf der ich immer mit Maman Odette gesessen hatte. Mir drehte sich mit einem Mal der Kopf, als hätte ich mich verlaufen. Ich hatte die Orientierung verloren. Gilbert erkundigte sich freundlich, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich nickte hilflos. Weißt Du, manchmal holt mich mein Alter ein, und dann fühle ich mich so alt, wie ich bin. Und glaub mir, an diesem Abend lasteten meine sechzig Jahre schwer auf mir.
Ich sah nun, wo der riesige Bogen des Boulevards Saint-Germain weitergezogen werden sollte: genau hier neben der Kirche. Unsere dunkle Häuserreihe, wo in keinem Fenster Licht brannte und sich die einsturzgefährdeten Dächer deutlich vor dem fahlen, sternenlosen Winterhimmel abzeichneten, war die letzte, die noch stand. Es kam mir vor, als wäre ein Riese hindurchgetrampelt und hätte wie ein wütendes Kind mit seiner großen, ungeschickten Hand die kleinen Straßen hinweggefegt, die ich seit meiner Kindheit kannte.
Und dennoch lebten abseits der zerstörten Viertel Menschen in Häusern, die noch standen und nicht gefährdet waren. Menschen aßen, tranken, schliefen, sie gingen ihrem Alltag nach, sie lebten ein ganz normales Leben, feierten Geburtstage, Hochzeiten, Taufen. Die Abbrucharbeiten, die hier vonstatten gingen, waren wohl eine Belästigung für sie – der Lärm, der Staub, der Dreck –, aber zumindest waren ihre Häuser nicht bedroht. Sie würden nie erfahren, was es heißt, ein trautes Heim zu verlieren. Trauer übermannte mich, meine Augen wurden feucht. Auf einmal überkam mich der Hass auf den Präfekten wieder mit einer solchen Macht und Wut, dass ich Hals über Kopf in die dünne Schneeschicht gefallen wäre, wäre da nicht Gilberts kräftige Hand gewesen.
Als wir wieder nach Hause kamen, war ich erschöpft. Gilbert muss es bemerkt haben, denn er blieb weit in die Nacht hinein bei mir. Er kannte einen Herrn aus der Rue des Canettes, der ihm von Zeit zu Zeit Geld und Essen gab; heute Abend hatte er Suppe spendiert. Wir schlürften sie mit Genuss, die heiße Flüssigkeit machte uns satt. Ich musste an Alexandrine denken, die den weiten Weg in diesen abgesperrten, zum Abriss freigegebenen Teil des Viertels auf sich genommen hatte, um nach mir zu sehen. Ich war ihr von Herzen verbunden. Es war riskant, unter den Holzschranken voller bedrohlicher Plakate – »Kein Durchgang« oder »Gefahr« – hindurchzukriechen und durch die verlassenen Straßen zu schleichen. Was sie wohl erwartet hatte? Dass sie mich in meinem leeren Salon mit einer schönen Tasse Tee vorfindet? Oder hatte sie erraten, dass ich ihren Keller als Versteck nutzte? Irgendetwas musste sie ahnen, sonst wäre sie nicht hierher zurückgekommen. Gilbert hatte recht. Sie war ein kluges Mädchen. Wie sehr sie mir fehlte!
Vor ein paar Wochen, als die Leute aus der ganze Straße im Hinblick auf den bevorstehenden Abriss ihre Sachen packten, verbrachten wir beide einen Vormittag zusammen im Jardin du Luxembourg. Sie hatte eine Stelle in einem großen Blumengeschäft am Palais Royal gefunden. Sonderlich begeistert war sie darüber zwar nicht, denn wie sie mir sagte, muss der Besitzer so herrisch sein wie sie selbst, und es kommt immer wieder zum Streit, doch im Moment sei es das Beste für sie, meinte sie, und sie bekommt ein gutes
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