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Das Haus Der Schwestern

Das Haus Der Schwestern

Titel: Das Haus Der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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mehr an sie denken.

    Am 22. Juni fielen die Deutschen in Rußland ein. Viele Engländer waren entsetzt, denn sie glaubten zunächst, Hitlers Optimismus, mit dem er sich auf einen ungeschwächten Gegner, auf ein gewaltig großes Land einließ, spreche dafür, daß die Deutschen tatsächlich noch stärker waren, als man bisher gedacht hatte — daß sie über ungeahnte Reserven verfügen mußten. Würden sie sonst ein solches Risiko eingehen?
    Nur wenige sahen in Hitlers Angriff auf Rußland die Wende im Kriegsglück der Deutschen voraus. Premier Churchill hatte schon Monate vorher orakelt, die Deutschen würden einen Vorstoß nach Osten unternehmen, und er sah sich nun bestätigt. Er gehörte zu denen, die die Überzeugung vertraten, Hitler habe sich übernommen und begonnen, die eigene Niederlage einzuläuten.
    Aber zunächst fraßen sich die deutschen Panzer mit der bei ihnen bereits gewohnten Schnelligkeit und Unaufhaltsamkeit immer tiefer nach Rußland hinein.
    »Es ist, als könnte nichts sie stoppen«, sagte Charles, wenn er am Radio saß und den neuesten Kriegsberichten lauschte. »Es ist, als kapituliere alle Welt vor dem Größenwahn dieses Volkes.«
    »Nein, die Welt kapituliert nicht«, widersprach Frances, »sie hat nur alle Warnzeichen gründlich übersehen und allzulange gebraucht, sich von ihrer Überraschung zu erholen. Aber von nun an wird Hitler mehr und mehr Ärger bekommen, schlimmeren Ärger, als er sich jetzt ausrechnen kann.«
    Sie war überzeugt, daß Hitler an Rußland scheitern würde. Aber Charles, in seinem grundlegenden Pessimismus, teilte ihre Auffassung nicht und sah das Weltende voraus.
    In diesen Sommerwochen des Jahres 1941 wurde er zu einem Schatten seiner selbst. Nachdem er den Winter und seine Lungenentzündung gerade so überstanden hatte, schien er nun am langsamen Verfall seiner Kräfte jeden Tag ein Stück zu sterben. Jeden Morgen hatte es den Anschein, als sei ein bißchen weniger von ihm da. Wenn Frances ihn fragte, wie es ihm gehe, sagte er nur: »Ganz gut, Kind, ganz gut.«
    Jeder im Haus hatte den Eindruck, daß sein Ende nahte, aber niemand sprach davon, und auch Charles sagte nur einmal: »Ich bin froh, daß ich zwei Dinge nicht mehr erleben werde: den Sieg des Nationalsozialismus über die Welt und Victorias Scheidung.« Es war das einzige Mal, daß er, in Anwesenheit von Frances und Adeline, seinen Tod erwähnte.
    Frances sagte daraufhin schockiert: »Wie kannst du glauben, daß der Nationalsozialismus siegen wird?« «
    Und Adeline rief gleichzeitig entsetzt aus: »Daß Sie so etwas nur ja nicht gegenüber Victoria laut werden lassen, Sir! Das arme Ding hat es schon schwer genug! «
    Erst dann versicherten sie Charles einmütig, sie seien davon überzeugt, er werde sich gut erholen und noch lange leben.
    »Du siehst heute viel besser aus als gestern, Vater«, sagte Frances, aber Charles bedachte sie nur mit einem langen, ironischen Blick, ehe er sich mühsam erhob und schwerfällig aus dem Zimmer schlurfte.

    Charles hatte sich geirrt: Es gelang ihm nicht, zu sterben, ehe Victoria rechtskräftig geschieden wurde. Niemand im Haus hatte ihn davon unterrichtet — niemand hätte es gewagt —, daß Victoria und John eine Härtefallscheidung anstrebten und daher nicht die üblichen Fristen einhalten mußten.
    Victoria hatte die Eile mit »seelischer Grausamkeit« begründet, die ihr von ihrem Mann zwei Jahrzehnte lang praktisch ohne Unterlaß zugefügt worden sei, und John hatte dies auch widerstandslos eingeräumt. Victoria hatte daraufhin wieder nächtelang wach gelegen und in hoffnungsloser Verzweiflung in ihre Kissen geweint; denn sie hatte geglaubt, John werde sich einer raschen Scheidung widersetzen und damit eine Chance zur Versöhnung schaffen. Es kränkte sie tief, als sie feststellen mußte, daß er es lieber auf sich nahm, als Alleinschuldiger dazustehen (auch wenn er das ihrer Ansicht nach tatsächlich war), als auch nur einen Tag länger mit ihr verheiratet zu bleiben als unbedingt nötig. Er stritt nicht einmal um Geld. Es schien, er wäre bereit, ihr zu geben, was er hatte, wenn er dadurch nur endlich frei wäre. Victoria floh in ihrem Leid zu Märguerite, aber die reagierte ungeduldig und gereizt.
    Schließlich kam der 23. Juli, der Tag, an dem John und Victoria rechtskräftig geschieden wurden. Kummer und Enttäuschung hatten Victorias Fähigkeit, taktvoll und diplomatisch zu sein, weitgehend untergraben. Anstatt ihrem Vater die Lage der Dinge vorsichtig

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