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Das Haus Der Schwestern

Das Haus Der Schwestern

Titel: Das Haus Der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Totenschein ausstellen.«
    »Woran ist er denn gestorben?« fragte Marjorie.
    »Ich denke, sein Herz hat versagt«, sagte Frances. »Kommt her, Kinder, seht ihn euch an und nehmt Abschied!« «
    Laura trat folgsam näher, aber Marjorie schüttelte nur heftig den Kopf, wandte sich ab und stürzte aus dem Zimmer. Man konnte ihre Schritte auf der Treppe hören, dann schlug unten die Haustür zu.
    »Wenn sie zurückkommt, soll sie sich in acht nehmen«, sagte Frances zornig.
    Aber Marguerite meinte ruhig: »Sie ist zu jung. Das hier ist zuviel für sie.«
    »Armer Mr. Gray«, murmelte Laura. Sie starrte den ausgemergelten, alten Mann an. Ihre Hände mit den dicken Fingern klammerten sich um eine Stuhllehne. »Wann wird er beerdigt?«
    »Ich werde mit dem Pfarrer sprechen«, sagte Frances, doch dann kam ihr ein Gedanke, und sie fügte hinzu: »Ach, und irgendwie muß ich auch George verständigen und herbringen. Diesmal wird er seine Einsiedelei verlassen müssen.«

    George mußte gar nichts, und er dachte nicht daran, seine selbstgewählte Einsamkeit auch nur für einen Tag aufzugeben. Wie sollte er auch plötzlich fremden Menschen gegenübertreten, nachdem er seit einem Vierteljahrhundert nur noch mit seiner Schwester verkehrte?
    Frances war nach Staintondale gefahren, um ihn von Charles’ Tod zu unterrichten und ihn gleich mitzunehmen; aber er sagte, er werde nicht mitkommen. Er war dabei so ruhig, als zweifle er nicht daran, daß sie ihn verstehen würde, oder als sei es ihm gleichgültig, ob sie ihn verstand. Es gelang Frances nicht, herauszufinden, ob ihn Charles’ Tod traf. Sein Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert, als er es erfuhr. Er sah so weltabgewandt drein wie immer, unerreichbar in dem Kokon, den er um sich gesponnen hatte und der ihn vor dem Wahnsinn bewahrte.
    »Du mußt mitkommen«, drängte Frances, aber er antwortete nicht, sondern sah nur aus dem Fenster zum Meer hin, so wie er es getan hatte, ehe Frances hereingekommen war und seine Ruhe gestört hatte.
    »Niemand wird es verstehen, wenn du nicht kommst«, sagte Frances beschwörend, und unter dem Klang ihrer Stimme wandte er sich noch einmal um; sie konnte einen Ausdruck von Verwunderung über sein Gesicht huschen sehen. Verwunderung darüber, daß sie glaubte, es interessiere ihn, ob ihn jemand verstand. Erstaunen auch, daß es sie interessierte.
    Sie sah beschämt zur Seite, stand auf und sagte: »Nun ja... Vielleicht mußt du auf deine Weise Abschied nehmen von ihm.«
    Sie hoffte bis zuletzt, er werde vielleicht doch noch auftauchen, am Grab erscheinen und seinem Vater selbst Lebewohl sagen. Es schmerzte sie, daß er es nicht tat, weil sie wußte, daß es Charles geschmerzt hätte. Jeder war gekommen, nur sein einziger Sohn nicht.
    Das ganze Dorf hatte sich an jenem windigen, sonnigen Julitag auf dem Friedhof versammelt. Im Schatten der Bäume war es kühl, aber immer wieder zerrte der Wind die dichtbelaubten Zweige auseinander, und Sonnenstrahlen schossen warm und leuchtend hindurch und malten helle Flecken auf das Moos und die alten Steine. Die Menschen standen still um das Grab herum, und auf den meisten Gesichtern war echte Traurigkeit zu lesen.
    Charles Gray war nie einer von ihnen gewesen, Herkunft und Bildung hatten ihn weit über die Bauern hinweggehoben; aber auf seine ruhige, zurückhaltende Art hatte er dennoch nie das Gefühl aufkommen lassen, er halte sich für etwas Besseres. Er hatte jeden freundlich gegrüßt und war immer höflich gewesen. Außerdem wußte man allgemein, daß er auf ein Leben in Luxus und Überfluß verzichtet hatte, um die Frau heiraten zu können, die er liebte, und das allein schon öffnete ihm die Herzen.
    »Er war ein feiner Herr«, sagte eine Bäuerin, die Frances kondolierte, mit Tränen in den Augen, »ein wirklich feiner Herr!«
    Frances stand die Beerdigung ohne Tränen durch, denn sie wußte, daß der Tod als Erlösung zu Charles gekommen, daß ein langsames Sterben zu Ende gegangen war, das fünfundzwanzig Jahre zuvor begonnen hatte. Charles hatte endlich seinen Frieden gefunden. Aber die Tränen, die sie nicht weinte, brannten in ihr, und mutlos dachte sie, daß nun endgültig nichts mehr war wie zuvor, es nie mehr sein würde.
    Nie mehr konnte sie sich als Kind fühlen in Westhill, sich nie mehr beschützt wissen. Obwohl sie schon lange alle Entscheidungen allein traf, schon lange für die Familie und die Farm sorgte, war Charles doch immer noch wie eine übergeordnete Instanz gewesen,

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