Das Haus Der Schwestern
ein Patriarch, der sich aus dem Alltag zurückgezogen hatte, dessen Weisheit und Erfahrung aber dagewesen wären, hätte man ihrer bedurft.
Nun war sie allein. Allein mit ihrer Verantwortung für das Haus und das Land, mit ihrer Sorge um die beiden Kinder, um die unglückliche Victoria. Dazu herrschte Krieg, und Gott mochte wissen, was ihnen allen noch bevorstand.
Sie atmete tief durch, als könne dies den Druck, der auf ihrer Brust lag, leichter machen.
»Erde zu Erde«, sagte der Pfarrer gerade, »Asche zu Asche, und Staub zu Staub ...«
Sie hob den Blick und ließ ihn über die Versammelten schweifen, noch immer in der Hoffnung, George werde plötzlich auftauchen. Sie sah John, der sehr vornehm aussah in seinem schwarzen Anzug und der offenbar noch nichts getrunken hatte an diesem Tag, denn seine Wangen waren fahl und seine gefalteten Hände zitterten leicht. Es wurde schlimmer mit ihm: Bis vor einigen Monaten war er noch recht gut in Form gewesen, wenn er nicht trank, jetzt ging es ihm wirklich schlecht ohne Alkohol. Sie bemerkte, daß er ebenfalls umherblickte, und dachte, er suche nach ihr, was sich für eine Sekunde wie ein den Schmerz besänftigenden Trost über sie legte.
Aber dann wurde ihr bereits klar, daß er sie gar nicht suchen mußte, denn sie und Victoria standen ganz vorne am Grab, für niemanden zu übersehen. Sie sah ihn lächeln, fast unmerklich, und als sie dem Blick seiner Augen folgte, erkannte sie, wem sein Lächeln galt: Marguerite runzelte ein wenig die Stirn, als finde sie es unschicklich, während einer Beisetzung ein Lächeln auszutauschen, aber zugleich schien sie bewegt.
Frances stand wie vom Donner gerührt. Davon hatte sie keine Ahnung gehabt. Zwischen John und Marguerite hatte sich ein Band gesponnen, zart sicher noch, aber unübersehbar.
Wie hatte sie das so lange nicht bemerken können?
Samstag, 28. Dezember 1996
Barbara hatte bis fast in den Morgen gelesen. Erst gegen vier Uhr löschte sie die Kerzen, legte sich zurück und schlief fast augenblicklich ein.
Sie erwachte vom hellen Lichtschein, der sie blendete, kaum daß sie die Augen aufschlug. Verwirrt dachte sie: Es muß schon spät sein, wenn die Sonne hier hereinscheint!
Aber dann bemerkte sie, daß nicht die Sonne sie geweckt hatte, sondern die Lampe neben ihrem Bett. Sie hatte in den vergangenen Tagen wohl hundertmal an ihr herumgeschaltet, und am Ende war sie offenbar in angeknipstem Zustand gewesen. Falls auch die Heizung wieder funktionierte, hatten sie jetzt Licht, Wärme und ein Telefon — allerdings nach wie vor nichts zu essen.
Jenseits der Fenster herrschte noch Dunkelheit, wie sie durch einen Spalt zwischen den Vorhängen feststellen konnte. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, daß sie knapp drei Stunden geschlafen hatte. Neben ihr auf dem Fußboden lagen zwei Papierstapel; der weitaus dickere von beiden stellte den Teil dar, den sie schon gelesen hatte, der dünnere stand ihr noch bevor. Er würde eine Weile warten müssen. Sie brauchte ein bißchen Schlaf.
Sie knipste das Licht aus. Ein eigenartiges Gefühl; sie hatte sich schon so daran gewöhnt, Kerzen auszupusten, daß ihr die brennende Lampe wie ein seltener Luxus erschien.
Sie legte sich in ihre Kissen zurück und wartete, daß der Schlaf wieder nach ihr greifen würde, aber nichts geschah. Obwohl ihre Augen brannten und ihr Kopf dumpf war vor Müdigkeit, war sie hellwach. Ihr Magen schmerzte, ihre Eingeweide schienen sich zusammenzukrampfen. Sie hatte nicht gewußt, daß Hunger so weh tat. Für eine Frau ihrer Generation, Ende der fünfziger Jahre geboren, war Hunger ohnehin ein praktisch unbekannter Zustand, richtiger Hunger jedenfalls. Sie hatte schon rabiate Abmagerungskuren hinter sich gebracht oder manchmal nach einem harten Arbeitstag großen Appetit gehabt; aber tagelangen, ständigen Hunger kannte sie einfach nicht, nicht aus eigener Erfahrung, nur aus Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern.
Verrückt, diese ganze Situation, dachte sie, einfach verrückt.
Sie versuchte an das Buch zu denken, um den Hunger zu vergessen. Laura kam ihr in den Sinn, das Mädchen mit den Freßattacken. Sie mußte grinsen; typisch, daß ihr — mit knurrendem Magen — gerade der nächtliche Überfall auf die Puddingschüssel im Gedächtnis geblieben war. Aber gleich darauf wurde ihr klar, daß sie nicht nur aus Hunger an Laura gedacht hatte, sondern weil die Schilderung des Mädchens Bilder in ihrer Erinnerung geweckt hatte, die sie tief vergraben
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