Das Haus Der Schwestern
ausgezogen, irgendwohin nach Bethnal Green, im Osten der Stadt, weil Mr. Selley dort wieder eine Stelle als Hausmeister gefunden habe. Sie kenne jedoch nicht die neue Adresse.
Diese Auskunft beunruhigte Frances noch mehr. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Alice ihre Wohnung wechselte, ohne ihren Kindern die neue Anschrift mitzuteilen. Sie bemühte sich, ihre Sorgen vor Laura und Marjorie zu verbergen, und die beiden sprachen von sich aus ebenfalls nicht davon. Aber eines Tages kam Frances die Treppe hinauf und wurde unfreiwillig Zeugin einer lautstarken Unterhaltung zwischen den beiden Mädchen.
»Ich wette, sie sind tot, alle beide«, sagte Marjorie gerade. Ihre Stimme klang verächtlich.
»So? Und warum schreibst du Mami dann einen Brief?« fragte Laura. Wie immer wirkte sie weinerlich.
»Weil ich eben Lust habe. Darum! «
»Du kannst ihn doch gar nicht abschicken. Wir wissen ja nicht die Adresse.«
»Ich kann ihn nicht abschicken, weil sie tot sind!«
»Hör auf! Hör auf, das immer zu sagen!« rief Laura. »Es stimmt nicht! Du kannst es gar nicht wissen!«
»Du bist so schrecklich naiv, Laura! Dabei bist du sogar älter als ich. Du kannst einfach zwei und zwei nicht zusammenzählen!«
»Mami wird bald anrufen«, beharrte Laura störrisch.
Marjorie lachte schrill. »Du glaubst wohl noch an den Weihnachtsmann! Wir sehen Mami nie wieder. Das Schlimme ist nur, daß wir hier festsitzen. Aber wahrscheinlich behalten die uns gar nicht. Sie werden uns in ein Waisenhaus stecken!«
Laura schluchzte auf.
»Das reicht«, murmelte Frances. Sie wollte das Zimmer betreten, aber sie konnte gerade noch einer in Tränen aufgelösten Laura ausweichen, die an ihr vorbeistürzte, im Bad verschwand und die Tür hinter sich zuwarf. Knirschend wurde der Riegel vorgeschoben.
»Marjorie! « sagte Frances streng. »Zufällig habe ich gehört, wie du...«
Marjorie war weiß wie die Wand. »Ach? Jetzt werde ich wieder angegriffen! Dabei habe ich recht! Sie wissen das! Mami und Dad sind tot! Sie sind tot und kommen nie wieder! «
Mit diesen Worten stürzte sie ebenfalls aus dem Zimmer, noch ehe Frances sie zurückhalten konnte. Ihre Schritte verklangen auf der Treppe.
Frances verdrehte die Augen. Ihr Blick fiel auf einen Briefbogen, der auf dem Tisch am Fenster lag. Hatte Laura nicht gefragt, weshalb Marjorie einen Brief an ihre Mutter schreibe?
Neugierig trat sie näher. Sie wußte, es gehörte sich nicht, daß sie ihn las, auch ein zwölfjähriges Mädchen hatte sein Briefgeheimnis. Aber es reizte sie, zu erfahren, was Marjorie über das Leben in Westhill an ihre Mutter schrieb.
»Liebe Mami«, stand auf dem Papier, »es ist ganz furchtbar hier. Du kannst dir nicht denken, wie schlimm Frances ist. Sie hat kalte Augen und eine harte, laute Stimme. Mich kann sie nicht leiden, nur Laura. Laura darf alles. Sogar fressen ohne Pause, obwohl sie so fett ist wie ein Schwein. Frances hat gesagt, sie schlägt mich, wenn ich noch einmal sage, daß Laura fett ist. Darf sie das? Mami, können wir nicht wieder zu dir und Dad nach London kommen? Werfen denn die Deutschen immer noch so viele Bomben? Wenn du mich nicht bald holst, werde ich ausreißen. Ich habe ...«
An dieser Stelle mußte Marjorie gestört worden sein, der Brief brach mitten im Satz ab.
Frances zog sich von dem Tisch zurück. Sie hatte gewußt, daß Marjorie sie nicht mochte, sich nicht wohl fühlte in Westhill. Aber dennoch war sie sehr betroffen. Sie hatte nicht gedacht, daß Marjorie sogar mit dem Gedanken spielte, davonzulaufen.
Ich wünschte, Alice würde sich endlich melden, dachte sie voller Unruhe, allmählich wird mir die Verantwortung einfach zu groß.
Sie hielt ein wachsames Auge auf Marjorie während der nächsten Wochen, konnte aber nichts entdecken, was auf eine Vorbereitung zur Flucht schließen ließ. Das Mädchen gab sich nun nicht mehr die geringste Mühe, seinen Haß auf Frances zu verbergen, wobei Frances noch immer rätselte, womit sie sich diesen Haß zugezogen hatte. Er war einfach dagewesen, schon auf dem Bahnhof von Northallerton. Haß auf den ersten Blick, so unerklärlich wie Liebe auf den ersten Blick. Eine instinktive, impulsive Ablehnung, wie sie bei Hunden vorkommt, die aus unerfindlichen Gründen aufeinander losgehen, ohne daß etwas vorgefallen wäre.
Frances sagte sich, der Krieg würde irgendwann vorbei sein, dann würden sie und Marjorie einander vergessen. Alices Kinder waren eine Episode. In einigen Jahren würde sie kaum
Weitere Kostenlose Bücher