Das Haus Der Schwestern
zurück, die irgend jemand unter der Garderobe hatte stehen lassen.
»Zieh die an, sonst wirst du noch so krank wie Charles!« Sie holte einen Teller aus dem Schrank, einen Löffel, und schließlich die Puddingschüssel aus der Speisekammer und stellte alles vor Laura auf den Tisch.
»So. Du bist doch ein großes Mädchen, nicht wahr? Du brauchst dich weder nachts heimlich über die Vorräte herzumachen, noch sie auf den Knien liegend verschlingen. Jetzt iß bitte wie ein normaler Mensch. Und morgen früh wäschst du als erstes dein Haar. Es ist völlig verschmiert! «
Laura schien es jedoch den Appetit verschlagen zu haben. Sie rührte nichts an, kauerte wie ein verschrecktes Kaninchen auf der Bank und wagte nicht, den Blick zu heben.
Frances hatte ihr gegenüber Platz genommen. »Laura, du mußt wirklich keine Angst haben«, sagte sie eindringlich, »ich bin dir nicht böse, nur weil du nachts die Speisekammer plünderst. Aber, ehrlich gesagt, mache ich mir Sorgen um dich. Es ist nicht normal, wieviel du ißt. Ich gönne dir wirklich jeden Bissen, das ist es nicht. Und auch mich selbst hat schon manchmal nachts der Heißhunger überfallen, und ich habe mich in der Küche wiedergefunden. Allerdings hatte ich dann immer noch die Zeit, mir wenigstens einen Löffel zu holen. Und . . . es kam nicht allzu häufig vor.«
Sie hielt inne. Laura starrte noch immer mit unglücklichem Gesicht auf die Tischplatte vor sich.
»Bei dir kommt es häufiger vor, nicht?« fragte Frances vorsichtig.
Laura nickte. Aus ihren Augen lösten sich ein paar Tränen, rannen ihr lautlos über die dicken Backen.
Was für ein häßliches Mädchen sie ist, dachte Frances mitleidig. Ihre Augen erinnerten an die eines Fisches. Bei genauem Hinsehen entdeckte man, daß sie lange, dichte Wimpern hatte; aber da sie von der gleichen hellen Farbe waren wie ihr Haar, wirkten die Augen zumindest auf die Entfernung wimpernlos. Sie hing auf ihrer Bank wie ein plumper, unförmiger Sack. Ihr kleiner, schmallippiger Mund verschwand fast zwischen den aufgequollenen Wangen.
»Es tut mir so leid«, stieß sie hervor, »ich weiß, ich habe mich unmöglich benommen. Sie waren so nett, uns hier aufzunehmen, und ich habe Sie immer wieder bestohlen. Ich kann nicht aufhören mit dem Essen.« Sie schluchzte jetzt heftig. Ihr Körper bebte und zitterte.
»Aber, Laura, mach dir doch keine Gedanken wegen des Essens! « bat Frances. »Das ist nicht das Problem. Mir macht einfach Sorgen, daß du offenbar unglücklich bist. Was bedrückt dich so?«
»Ich weiß nicht!«
»Hast du Angst wegen deiner Eltern? Daß ihnen etwas zustoßen könnte? «
»Ich weiß nicht...«
»Mußt du noch oft an die Bomben denken? An die Nacht, als euer Haus brannte?«
»Ich weiß es wirklich nicht«, weinte Laura. Inzwischen lief auch ihre Nase; mit dem Ärmel ihres Nachthemds wischte sie den Schleim ab. Frances unterdrückte im letzten Moment den Protest, der ihr schon auf der Zunge lag.
»Ich weiß es nicht. Es ist nicht so, daß ich ständig über etwas nachdenken müßte . . . außer über Essen. In jeder einzelnen Minute, bei Tag und Nacht, muß ich an Essen denken. Es ist schlecht von mir, nicht? Ich sollte an meine Eltern denken. Sie sitzen in London und werden bombardiert und müssen sich mühsam durchschlagen. Vielleicht haben sie nicht einmal etwas zu essen . . .« Sie stockte, dann lachte sie plötzlich, aber es war ein verzweifeltes Lachen.
»Da ist es wieder! Essen! Wahrscheinlich haben meine Eltern ganz andere Sorgen; aber wenn ich an sie denke, frage ich mich vor allem, ob sie wohl genug zu essen haben.«
Frances überlegte einen Moment, dann sagte sie: »Laura, im Augenblick weiß ich noch nicht, wie ich dir helfen kann, aber ich werde darüber nachdenken, das verspreche ich dir. Ich möchte dich vorläufig nur um eines bitten: Tu es nicht heimlich. Das brauchst du nicht. Ja? Vielleicht kann ich dir helfen, aber du mußt offen zu mir sein. Kannst du das versuchen?«
Laura nickte und wischte sich die Tränen ab. Ihr Gesicht war rot und verquollen.
»Ich versuche es, Frances. Danke.«
»Weiß Marjorie von deinem Problem?«
»Ja. Aber sie hackt nur auf mir herum deswegen. Dauernd sagt sie mir, daß ich fett und eklig bin.«
»Ich werde mit ihr sprechen.« Frances erhob sich. »Wir sollten jetzt schlafen gehen. Oder möchtest du noch etwas essen?«
»Nein.« Laura stand ebenfalls auf. Frances musterte sie kritisch.
»Wir brauchen neue Kleider für dich. Aus deinen
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