Das Haus Der Schwestern
und behutsam nahezubringen, platzte sie beim Abendessen völlig unvermittelt damit heraus.
»Vater, übrigens, John und ich sind heute geschieden worden«, sagte sie mitten in ein harmlos dahinplätscherndes Gespräch über den zu kühlen Sommer hinein. Dann warf sie ihre Serviette hin und verließ das Eßzimmer.
Charles war kreideweiß geworden. »Wie? « fragte er schwerfällig. Seine Hand, die eine Gabel hielt, zitterte.
»Vater, wir wußten doch, daß dieser Moment kommen würde«, sagte Frances. »Es ging nur etwas schneller. Seien wir doch froh, daß alles hinter uns liegt.«
»Meine Tochter ist eine geschiedene Frau«, murmelte Charles. Sein greisenhaftes Gesicht schien von einem Moment zum anderen noch mehr einzufallen. Frances verfluchte im stillen Victorias Rücksichtslosigkeit, mit der sie ihre Nachricht herausposaunt hatte. Laura machte große Augen.
»Victoria ist eine geschiedene Frau?« fragte sie. »Aber das ist schlimm, nicht? Eigentlich darf man sich doch nicht...«
»Laura, ich fürchte, davon verstehst du überhaupt nichts«, unterbrach Frances sie sehr scharf. Laura preßte die Lippen aufeinander.
»Ich möchte hinauf in mein Zimmer«, sagte Charles leise. Er wollte aufstehen, aber es gelang ihm nicht. Frances und Adeline mußten ihn stützen und die Treppe fast hinauftragen. Apathisch ließ er sich von ihnen in seinem Schlafzimmer auskleiden. Frances war entsetzt, als sie den Körper ihres Vaters sah. Er war beinahe bis aufs Skelett abgemagert, die Rippen und Hüftknochen stachen spitz hervor. Seine faltigen Oberarme waren dünn wie die eines kleinen Kindes. Ein paar armselige, graue Haare sprossen auf der eingesunkenen Brust.
»Morgen muß unbedingt noch einmal der Arzt kommen«, sagte Frances, »Vater sieht ja schlechter aus als während seiner Lungenentzündung. «
Charles öffnete die Augen. »Ich brauche keinen Arzt.«
»Er soll dich nur ansehen. Und uns sagen, wie wir dich aufpäppeln können. Du mußt unbedingt zunehmen.«
»Wozu?« fragte Charles.
Er starb zwei Tage später, in seinem Bett, im Schlaf. Er war nicht mehr aufgestanden seit jenem Abend, und der Arzt hatte nach der Untersuchung bedenklich dreingeblickt.
»Er ist sehr schwach«, hatte er gesagt, »er hat kaum noch Kraft. Die schwere Krankheit im letzten Winter hat seinen Körper völlig ausgezehrt. Sein Herz gefällt mir überhaupt nicht. Er darf sich nicht aufregen. Nicht anstrengen. Ansonsten kann man kaum etwas tun.«
Das letzte, was Charles zu Frances sagte, war: »Paß auf Victoria auf!« Das war, nachdem sie ihm die kräftige Fleischbrühe, die Adeline für ihn gekocht hatte, eingeflößt hatte und ihn für seinen Mittagsschlaf allein lassen wollte.
»Wie kommst du denn jetzt darauf, Vater?« fragte sie.
Er wiederholte nur: »Paß auf Victoria auf!« und schloß die Augen. Er wollte schlafen.
Frances wartete noch ein paar Minuten, lauschte auf seine Atemzüge, die kräftig und gleichmäßig schienen. Sie ließ ihn allein, und irgendwann während der folgenden eineinhalb Stunden mußte sein Herz aufgehört haben zu schlagen; denn als sie am frühen Nachmittag kam, um nach ihm zu sehen, war er tot.
Er lag genauso da, wie sie ihn verlassen hatte, aber er atmete nicht mehr. Sein Mund stand leicht offen. Seine Hand hing schlaff seitlich am Bett herab.
Frances rief: »Vater!«, und sie mußte es laut gerufen haben und wohl auch erschrocken, denn sofort versammelten sich alle im Haus befindlichen Personen, einschließlich Marguerite, im Zimmer. Frances faßte nach Charles’ Hand; sie war steif und eiskalt.
»Er ist tot«, sagte sie.
Victoria stöhnte leise auf. »O Gott«, flüsterte sie.
Adeline stieß einen Schreckenslaut aus. Lauras Gesicht trug den Ausdruck von Grauen, Marjories verriet einen Anflug von Sensationsgier. Marguerite zeigte keine Regung, aber in ihren dunklen Augen lag Anteilnahme.
»Es ist meine Schuld«, sagte Victoria, »es ist meine Schuld! Es ist...«
»Unsinn!« fauchte Frances, aber in Wahrheit war sie überzeugt, daß Victoria die Schuld trug. Sie konnte nichts dafür, daß er sich ihre Scheidung so zu Herzen nahm, aber sie hatte alles erschwert durch ihr ständiges Jammern und Klagen; und durch ihren unbedachten Auftritt zwei Tage zuvor hatte sie ihm die Aufregung beschert, die er hätte meiden sollen. Irgendwann würde Victoria das von ihr zu hören bekommen, aber nicht jetzt, nicht am Totenbett des Vaters.
»Ruf den Arzt, Adeline«, befahl sie, »er muß kommen und den
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