Das Haus Der Schwestern
die Hände in den Schoß.
»Alles, was ich jetzt erklären würde, müßte für dich nach Ausflüchten klingen«, sagte sie. »Und ich möchte mich nicht herausreden. Es ist passiert. Es tut mir leid.«
»Hast du dich in ihn verliebt?«
»In Fernand? Nach allem, was . . .«
»Ich meine... gestern nacht. Gab es einen Moment, in dem du... glaubtest, ihn wirklich zu lieben?«
»Nein.« Das kam klar und spontan. »Nein, diesen Moment gab es nicht.«
»Wenn . . . das alles nicht passiert wäre . . . mit dem Buch von Frances Gray... ich meine, wenn er Laura nicht erpreßt hätte, wenn er jetzt nicht durchgedreht wäre . . . hättest du dann bei ihm bleiben mögen?«
»Das ist eine völlig hypothetische Frage, Ralph. Er ist der Mensch, der er ist. Selbst wenn das alles mit Laura nicht passiert wäre, es bliebe die Tatsache, daß er trinkt und seine Frau mißhandelt. Das zumindest wäre mir spätestens am nächsten Morgen wieder eingefallen.« Sie schwieg einen Moment, dann fügte sie hinzu: »Das ist mir an diesem Morgen eingefallen. Da wußte ich von allem anderen noch nichts. Aber ich fragte mich bereits, wie ich das hatte tun können.«
»Es wäre nicht passiert, wenn zwischen uns alles in Ordnung wäre.«
»Ich weiß nicht.« Jetzt sah sie ihn nicht an. »Vielleicht wäre es auch dann geschehen. Es war . . . Ich habe die Kontrolle verloren. Es scheint mir, als habe es gar nicht so viel mit Fernand Leigh zu tun. Es hätte auch irgend etwas anderes vorfallen können. Es . . .«
Sie suchte verzweifelt nach Worten. Wie sollte sie ihm erklären, was sie empfunden hatte, wenn sie es selbst noch gar nicht richtig begriff?
»Es war, als breche etwas in mir auf. Ich fühlte mich wie jemand, der lange Jahre nicht wirklich gelebt hat. Und der auf einmal etwas Verrücktes, Absurdes, etwas Verbotenes tut und sich damit klarmacht, daß das Leben in ihm nicht erloschen ist. Ach, Ralph! « Sie stand wieder auf. »Es muß verletzend klingen für dich. Und doch so, als wolle ich Ausflüchte suchen . . . eine primitive Geschichte überhöhen, um nicht einfach wie eine . . . eine gewöhnliche Ehebrecherin dazustehen. Laß uns später reden, Ralph. Irgendwann, wenn es dir bessergeht. Wenn du über alles nachdenken kannst. Dann müssen wir sehen, wie es weitergeht.«
»Glaubst du denn, daß es irgendwie weitergeht?«
Sie kniete neben ihm nieder. »Nicht jetzt. Bitte, Ralph. Im Moment geht es nur darum, daß wir überleben. Alles andere kommt später. Ja?«
Sie berührte sacht seine Wange. Er hielt die Augen geschlossen.
Zehn Minuten später fing er an, sich zu übergeben. Sie mußte ihn stützen, mußte seinen Kopf halten. Er wimmerte vor Schmerzen.
Sie begriff, daß er die Nacht nicht überstehen konnte, wenn sie nichts unternahm.
Es war schon nach sechs Uhr, als sie es wagte, ihn allein zu lassen. Sie war entschlossen, von draußen in das Wohnzimmer einzusteigen und die Polizei anzurufen; aber sie mußte warten, bis sie sicher sein konnte, daß er nicht noch einmal brechen würde. Er konnte sich ohne ihre Hilfe nicht bewegen und wäre dabei erstickt. Nachdem er sich zwanzig Minuten lang nicht gerührt und nicht mehr gewürgt hatte, hielt sie den richtigen Zeitpunkt für gekommen.
Es mußte schnell gehen, das war das Wichtigste. Zum einen, weil sie nicht lange von Ralph fortbleiben durfte. Und zum anderen, weil Fernand noch immer aus irgendeiner Ecke des Hauses auftauchen konnte. Sie mußte das Fenster mit dem ersten Schlag zertrümmern. Sie mußte sofort einsteigen können, mußte in Sekundenschnelle am Telefon sein.
Sie sah sich nach einem Gegenstand um, mit dem sie die Scheibe einschlagen konnte. Am besten hätte sich ein Holzscheit geeignet, aber neben dem Kamin lag keines mehr. In den Schränken fanden sich nur Gläser und Porzellan. Sollte sie einen ganzen Stuhl mit hinauswuchten?
Ihr Blick glitt über Decke und Wände und blieb an dem lächelnden Gesicht der jungen Frances Gray hängen. Der schwere, goldene Rahmen erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie nahm ihn in die Hand. Das Metall fühlte sich kalt und schwer zwischen ihren Fingern an. Frances lächelte ironisch.
»Damit«, murmelte Barbara, »könnte es gehen.«
Sie sah noch einmal nach Ralph. Er atmete flach und war völlig grau im Gesicht, aber noch immer schien sich kein neuer Brechreiz anzukündigen.
»Ich hole jetzt Hilfe«, flüsterte sie ihm zu, »hab keine Angst. Es wird alles gut.«
Eisigkalte Luft strömte ihr entgegen, als sie das Fenster öffnete.
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