Das Haus Der Schwestern
Der Abendhimmel war klar, vereinzelt konnte sie bereits Sterne blitzen sehen. Eine schmale Mondsichel spendete ein spärliches, kaltes Licht, unter dem die Schneefelder ringsum einen bläulichen Schein annahmen. Eine vollkommene Stille lag über dem Land, das durch keinen Laut gestörte, unnachahmliche Schweigen einer Winternacht. Die Schönheit der Szenerie berührte Barbara für einen Moment, trotz des Alptraums, in dem sie sich bewegte. Tief atmete sie Kälte und Dunkelheit. Niemals zuvor hatte sie in dieser Intensität begriffen, weshalb Frances Gray dieses Land so sehr geliebt hatte. In diesem schrecklichen Augenblick empfand sie diese Liebe als ein schmerzhaftes Ziehen in ihrem Innern. Ihre Hand schloß sich fester um das Bild.
»Wenn du nur irgendwie kannst, dann hilf mir jetzt«, bat sie leise.
Der Schnee knirschte unter ihren Füßen; er war nicht mehr frisch und vereiste nun im Frost der Nacht. Barbara huschte an der Hauswand entlang und kam vor dem Wohnzimmerfenster an. Kein Licht fiel heraus.
Sie blickte hinauf. Auch die anderen Fenster waren dunkel.
Er ist weg, dachte sie. Ich bin sicher, er ist weg. Ihm ist die Sache zu heiß geworden. Ich bin eine Idiotin, daß ich so lange gewartet habe. Aber genau damit hat er gerechnet. Daß Stunden vergehen würden, ehe wir etwas unternehmen, und daß er bis dahin jede Menge Zeit hätte, zu verschwinden.
Sie verwarf ihren ursprünglichen Plan, das Fenster einzuschlagen. Sie brauchte nichts kaputtzumachen. Sie konnte durch die Haustür hineingelangen.
Sie ging weiter, bis sie die Haustür erreichte. Vorsichtig drückte sie die Klinke hinunter. Natürlich, sie war nicht verschlossen. Man verschloß die Tür nie, nicht hier in dieser Gegend.
Da sie nicht vollkommen sicher sein konnte, daß Fernand nicht noch irgendwo in der Nähe war, verzichtete sie darauf, Licht anzumachen. Sie ließ die Haustür weit offen, so daß ein Hauch des blassen Mondlichts in den Flur hineinsickern konnte. Sie tastete sich an der Garderobe vorbei, wäre beinahe über einen herumliegenden Schuh gestolpert. Sie warf einen Blick zur Küche hin, deren Tür einen Spaltbreit offenstand. Auch dort war alles dunkel.
Im Wohnzimmer schaltete sie ebenfalls kein Licht ein. Sie wußte auch so, wo sie das Telefon fand. Sie erinnerte sich, wie sie am Abend zuvor hier neben Fernand auf dem Sofa gesessen, ferngesehen und Wein getrunken hatte. Das war vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden gewesen. Ihr kam es vor, als liege ein ganzes Leben dazwischen.
Sie stieß sich ihr Knie schmerzhaft an einem Tisch, aber sie achtete nicht darauf. Sie tastete nach dem Telefon und fand es. Ihre Finger schlossen sich um den Hörer.
Licht flammte auf. Sie fuhr herum. Hinter ihr stand Fernand.
»Ich wußte es«, sagte er. Seine Stimme klang ein wenig schleppend. »Ich wußte, daß du hier irgendwann auftauchen würdest. Du hast länger gewartet, als ich dachte.«
Ihr fiel im ersten Moment nichts anderes ein als die überflüssige Frage: »Du bist noch hier?«
»Wie du siehst. Ich habe dort«, er wies hinter sich auf einen Sessel, der neben der Tür stand, »auf dich gewartet.«
Sie kämpfte ihren Schrecken nieder, mühte sich, ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen.
»Was willst du, Fernand? Was soll dieses Katz-und-Maus-Spiel? «
»Was willst du ?« fragte er zurück.
»Ich will einen Notarzt anrufen. Es geht meinem Mann sehr schlecht. Er hat mit Sicherheit eine schwere Gehirnerschütterung davongetragen, und vielleicht sogar einen Schädelbruch. Ich . . .«, es fiel ihr schwer, auszusprechen, was sie gedanklich längst realisiert hatte, »ich glaube, daß er sterben wird, wenn nicht schnell ein Arzt kommt.«
»So? Sterben wird er? Bist du sicher?«
»Fernand, laß mich einen Arzt rufen. Wenn er stirbt, dann hast du einen Mord auf dem Gewissen. Mit allem anderen, was bisher geschehen ist, kommst du noch einigermaßen glimpflich davon. Aber Mord ist eine andere Sache.«
»Nun«, er schien angestrengt zu überlegen, »es kann aber sein, du läßt einen Arzt kommen, und dein Mann stirbt trotzdem, nicht wahr? Dann hätte ich auch einen Mord auf dem Gewissen.«
»Totschlag. Oder Körperverletzung mit Todesfolge. Ich weiß nicht, aber im englischen Strafrecht werden da doch auch Unterschiede gemacht, oder? Das wirkt sich im Strafmaß aus, glaub mir!«
»Ach, richtig! Ich vergesse immer wieder, mit wem ich es zu tun habe. Sie sind ja eine superkluge Juristin, Miss Barbara! Eine erfolgreiche Anwältin. Wie ist
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