Das Haus Der Schwestern
als steige das Fieber mit jeder Minute. »Es war Zufall, daß ich nicht demonstriert habe. Ich wäre ja dabeigewesen, hätte mich nicht diese Erkältung erwischt. Ich stehe zu den Zielen der anderen Frauen. Ich kann jetzt nicht irgendwelche Privilegien in Anspruch nehmen und verschwinden. Den anderen geht es auch schlecht, und sie müssen bleiben.«
Johns Gesicht, in dem bislang die verschiedenartigsten Empfindungen miteinander gestritten hatten, zeigte nur noch Ärger.
»Willst du damit sagen, daß du nach all dem hier...«, er machte eine Handbewegung, die den kalten, kahlen Raum umfaßte und das ganze Gefängnis meinte, »immer noch weitermachen willst mit dieser Geschichte? Daß du dich nach wie vor mit dieser Bewegung solidarisierst? «
» Ja. «
Er starrte sie an. Die Aufseherin verrenkte sich fast die Ohren, um mitzubekommen, was gesprochen wurde.
» Du bist verrückt«, sagte John. » Du hast offenbar keine Ahnung, daß du bis zum Hals in der Patsche sitzt. Du mußt dich von all dem distanzieren. Nur dann hast du eine Chance, glaubhaft zu machen, daß du den Stein nicht geworfen hast. Frances, bitte, sei jetzt nicht dumm!«
»Ich kann das nicht tun. Ich habe den Stein nicht geworfen, und das werde ich sagen. Aber zu allem anderen stehe ich.«
In seinen Augen funkelte ein Zorn, wie sie ihn an ihm noch nicht gesehen hatte.
»Du verspielst alles, Frances. Dazu hast du wirklich ein Talent. Du verspielst, was zwischen uns sein könnte, und das ist schon schlimm genug, aber du verspielst auch noch deine Zukunft. Das ist idiotisch. Wofür denn? Das Frauenwahlrecht hängt doch nicht von dir ab. Es wird dazu nicht einen Tag früher eine Gesetzesänderung geben, nur weil du hier sitzt und leidest. Dein Kampf wird ohnehin bald beendet sein, weil sie dich für eine ganze Reihe von Jahren einsperren werden. Du spielst ganz umsonst die Märtyrerin! «
»Ich gehöre zu ihnen. Ich kann nicht, wenn es zum erstenmal kritisch für mich wird, den Schwanz einziehen und weglaufen. Das würdest du auch nicht tun.«
»Ich würde mich von vorneherein nicht auf solch einen Unsinn einlassen!« entgegnete John heftig. »Frances«, er warf einen Blick zu der Aufseherin hin und senkte die Stimme, »ich will dich immer noch heiraten. Du hast das Leben jenseits von Leigh’s Dale doch nun weiß Gott ausprobiert. Ich möchte, daß ...«
»Ach, das ist es!« « krächzte Frances. Sie legte ein Lächeln auf ihr abgekämpftes Gesicht, das Verachtung und schmerzenden Spott zeigte. »Natürlich! Der aufstrebende Politiker John Leigh! Du willst ins Unterhaus, und auch noch für die Tories. Und für deine Karriere brauchst du natürlich die passende Frau an deiner Seite. Nicht eine, die im Gefängnis war und bei diesen liederlichen Suffragetten mitgezogen ist. Du willst mich heiraten, aber vorher soll ich mich natürlich rasch zu deinen Anschauungen bekehren lassen. Was bist du für ein Narr, John! Kennst du mich nicht genug, um zu wissen, daß ich das nun gerade nicht tue?«
»Jetzt laß dir bitte...«
Aber sie wandte sich ab. »Ich möchte zurück in meine Zelle«, sagte sie mit letzter Kraft in der Stimme zu der Aufseherin.
»Frances!« rief John. »Du machst einen Fehler!«
Sie sah noch einmal zu ihm hin. Sein Bild, wie er dort jenseits der trennenden Gitterstäbe stand, brannte sich tiefer in ihr Gedächtnis als alle anderen Bilder, die sie in sich trug. Er paßte so wenig in diese Umgebung. Aber er war gekommen, weil er immer gekommen war, wenn sie in Schwierigkeiten steckte. Er liebte und haßte sie in diesem Moment.
Sie wußte plötzlich, daß er sie nie wieder fragen würde, ob sie ihn heiraten wolle; eher würde er sich die Zunge abbeißen. Was immer sie jetzt noch von ihm wollte, sie müßte auf Knien darum betteln. Ihr schossen die Tränen in die Augen, und rasch drehte sie sich um, damit er es nicht merkte. Sie wies ihn ein zweites Mal zurück, und nun verlor sie ihn endgültig. Dabei war es ihr, als reiche der Verlust weit über diesen Mann hinaus; er umfaßte alles, was bislang ihr Leben ausgemacht hatte. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, die sie von allen entfernte, die sie liebte.
Sie verließ den Raum und schaute nicht mehr zu John zurück.
Irgendwann wurde sie gar nicht mehr gefragt; sie verlegten sie einfach in ein Krankenhaus. Sie hatte eine schwere Lungenentzündung und so hohes Fieber, daß sie kaum mitbekam, was geschah. Erst viel später begriff sie, wie nahe sie in jenen Wochen dem Tod gewesen
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