Das Haus Der Schwestern
Zimmer zurück und zog sich mit Hilfe der Schwester an. Margaret hatte ihr ein paar Tage zuvor einige Kleidungsstücke für die Zeit der Genesung gebracht. Der lange Wollrock schlabberte wie ein Kartoffelsack an Frances, und der Pullover darüber hing wie die Verkleidung einer Vogelscheuche über ihren knochigen Schultern.
»Passen Sie auf, das Schlimmste ist überstanden«, meinte die Schwester. »Jetzt müssen Sie nur noch tüchtig essen daheim, nicht wahr? Sie werden bald wieder bei Kräften sein.«
Frances musterte sich im Spiegel und dachte, wie schrecklich es war, daß sie ihrem zornigen Vater auch noch klapperdürr und bleich wie ein Gespenst entgegentreten mußte. Wenn er die Ansicht hegte, sie habe ihr Leben ruiniert, so konnte ihr derzeitiges Aussehen ihn in dieser Meinung nur bestärken. Könnte sie doch nur ein wenig Farbe in ihr Gesicht bringen! So, wie sie jetzt aussah, fühlte sie sich hoffnungslos unterlegen - ein Mensch, der nur noch als Häufchen Elend daherkam. Aber sie hatte kein Rouges hier und keinen Puder, sie konnte nichts beschönigen. Sie kniff sich in beide Wangen, um ihnen einen Hauch von Frische zu verleihen, aber das änderte nicht viel am Gesamteindruck, und der war niederschmetternd.
»Ich glaube, wir können dann gehen«, sagte sie zu der Schwester.
Sie mußte sich noch von den anderen Schwestern und den Ärzten verabschieden, und an der Art, wie alle sie ansahen, erkannte sie, daß sie das Sorgenkind des Krankenhauses gewesen sein mußte. Nach und nach begriff sie nun erst, wie ernst ihr Zustand gewesen war.
Die Schwester trug ihr die Tasche nach unten vor das Portal, wo eine Droschke wartete, die Charles bestellt hatte. Es war der 19. Dezember, es regnete, und die Luft war sehr kalt. Dunkelheit senkte sich über die Stadt. Frances fröstelte und schlang die Arme um ihren ausgemergelten Körper.
»Was für ein trüber, dunkler Tag«, sagte sie, und sie und ihr Vater wußten, daß damit nicht nur das Wetter gemeint war.
Als sie im Wagen saßen und das Krankenhaus hinter sich gelassen hatten, drückte sich Frances, der vor Kälte fast die Zähne aufeinanderschlugen, tiefer in die Polster des Sitzes. Sie warf ihrem Vater einen Blick von der Seite her zu. Charles sah starr geradeaus. Seine Lippen waren fest aufeinander gepreßt.
»Vater...«, sagte Frances leise.
Er wandte sich ihr zu. Sein Gesicht zeigte unverhüllten Zorn. »Ja?«
»Vater, muß ich ... muß ich später wieder ins Gefängnis zurück? Du weißt, wegen ...«
»Wegen der Sache mit dem Polizisten. Ja, ich bin informiert. Nein«, er sah wieder von ihr fort, »du kannst beruhigt sein. Die Anklage wurde fallengelassen.«
Sie brauchte ein paar Sekunden, um das zu begreifen. »Oh«, sagte sie dann überrascht. Charles schwieg. Fast trotzig fügte sie hinzu: »Ich war es auch nicht, Vater. Ich würde es dir gegenüber zugeben. Aber ich war es wirklich nicht.«
»Du hättest keine Chance gehabt«, sagte Charles, »das ist dir hoffentlich klar. Du gehörst zu diesen ... diesen Suffragetten. Du warst mitten im Tumult. Der Stein flog genau aus deiner Richtung. Der Polizist war sehr schwer verletzt. Alles sprach gegen dich.«
Ihr war klar, daß er recht hatte. Ihre Lage war verzweifelt gewesen. War?
»Vater, wieso haben sie dann nicht Anklage erhoben?«
Er sah sie immer noch nicht an.
»Das ist doch gleich«, erwiderte er.
»Nein, das ist es nicht. Ich will es wissen.«
Er schwieg einen weiteren Augenblick lang, dann wandte er sich ihr zu, mit einer ruckartigen, heftigen Bewegung. »Dein Großvater war es«, sagte er, »ihm hast du es zu verdanken. Reicht dir das nun?«
Wegen des lang zurückliegenden Familienzwistes hatte Frances ihren Großvater nie zu Gesicht bekommen. Für sie war er eine nebulöse Gestalt, in ihrer Phantasie ein steinalter Patriarch mit weißem Haar und grimmigem Gesicht, der mit verbiesterter Miene in einem Lehnstuhl auf seinem Landsitz saß, mit sich und der Welt im Unfrieden. Sie fragte sich, weshalb er sich einsetzen sollte für eine Enkelin, die er nicht kannte und die überdies die Tochter einer irischen Katholikin war.
»Wieso wußte er überhaupt davon?« fragte sie verwirrt.
»Ich habe es ihm gesagt«, antwortete Charles kurz.
»Du hast es ihm gesagt? Aber ich dachte, du hast seit zwanzig Jahren nicht mehr...«
»Richtig. Seit zwanzig Jahren habe ich kein Wort mehr mit ihm gesprochen. Und ich war stolz darauf. Stolz, ihn nicht zu brauchen. Stolz, leichten Herzens auf all das zu
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