Das Haus Der Schwestern
die Tür. »Ich will nicht, daß Margaret aufwacht«, erklärte er.
Margaret hätte seine Anwesenheit im Zimmer ihrer Nichte zu dieser Stunde nie gebilligt, das wußte Frances, aber die Gebote der Schicklichkeit waren ihr selbst schon seit einiger Zeit gleichgültig.
Sie nickte. »Ja, ihren Schlaf will ich ihr nicht auch noch rauben. Sie hat genug am Hals mit mir.«
»So dürfen Sie das nicht sehen. Sie liebt Sie. Sie empfindet Sie nicht als Last.«
»Na ja«, meinte Frances.
Phillip stand unbeholfen mitten im Zimmer. »Haben Sie... ich meine ... die Karte ... haben Sie sie gelesen?«
»Natürlich.« Sie versuchte sich zu erinnern, was er ihr geschrieben hatte. Irgend etwas von der » Sehnsucht der Welt« und von zwei Menschen, die einander fanden.
»Marlowe«, sagte Phillip. »Er hat eine wunderbare Sprache, finden Sie nicht? Die Stelle, die ich Ihnen aufgeschrieben habe, liebe ich besonders. Menelaos irrt durch das brennende Troja und trifft schließlich auf Helena. Seine Gefühle sind widersprüchlich und konfus. Zehn Jahre ... was weiß er von dem, was in ihr vorgeht? Vielleicht liebt sie einen anderen. Vielleicht liebt sie Paris, der sie raubte.«
Frances kramte ihre geringen Kenntnisse der griechischen Mythologie zusammen. Es war nicht allzuviel übriggeblieben seit der Schulzeit.
»Aber dann«, fuhr Phillip fort, »sieht er nur noch, daß sie seine Helena ist. Was immer gewesen ist, es zählt nur noch der Moment des Wiederfindens. Sie haben beide Schlimmes erlebt, und um sie herum tobt ein Inferno. Aber sie werden darüber triumphieren.«
Frances fragte sich, weshalb er ihr das erzählte. Ihrer Ansicht nach klang das allzu romantisch und weltfremd. Sie überlegte kurz, wie es mit Menelaos und Helena am Schluß ausgegangen war, aber es fiel ihr nicht ein. Wurde das überhaupt noch erwähnt?
Phillip hatte gedankenverloren seinen eigenen Worten nachgehangen. Nun kehrte er in die Wirklichkeit zurück. Er schien wieder Frances zu sehen, das Zimmer, das in dem schwachen Licht voller Schatten und Geheimnisse war und nach dem Lavendel roch, den Frances, in Erinnerung an Kate, in kleinen Duftkissen verpackt in den Schrank gelegt hatte. In seine Augen trat ein eigentümlicher Ausdruck, den Frances nicht zu deuten vermochte.
Er trat plötzlich an das Bett heran, setzte sich auf den Rand, nahm Frances’ Hände. »Ich könnte dir helfen«, sagte er, »ich könnte dir helfen, mit allem fertig zu werden. Du hast Schreckliches erlebt. Ich weiß, was du fühlst. Deshalb kann ich ...«
»Du weißt es nicht «, unterbrach Frances. Sie hätte gern ihre Hände aus seinen gezogen, aber er hielt sie zu fest. »Du kannst es gar nicht wissen. Niemand könnte das.«
Sie stöhnte unwillkürlich leise auf, als sich ihr die Erinnerung wieder aufdrängte: der düstere Kellerraum. Der Stuhl. Die Menschen, die sie festhielten, die mit ihrem ganzen Gewicht auf ihre Arme und Beine drückten, um sie festzuhalten. Der Strick um ihren Leib. Die groben Hände, die in ihren Mund griffen, um ihn zu öffnen. Der furchtbare Schlauch, den sie ihr in den Hals hinunterstießen. Wieder spürte sie die würgende Übelkeit, die panische Angst, zu ersticken.
» O Gott«, flüsterte sie. Tränen traten ihr in die Augen, liefen ihre Wangen hinab. »Es war so schlimm. Es tat so weh.«
Er zog sie an sich. »Das weiß ich.«
»Ich dachte, ich müßte sterben.«
»Ja. Ich verstehe dich.«
»Ich dachte, sie bringen mich um, und niemand hilft mir. Niemand hilft mir!«
Beruhigend strich er ihr über die Haare. Seine Hände waren sanft und tröstend.
»Ich fühlte mich so wehrlos. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich wollte kämpfen, ich wollte es nicht einfach hinnehmen. Aber ich konnte nichts tun. Ich konnte überhaupt nichts tun!«
Die Tränen strömten nur so. Zum erstenmal seit jenem Tag weinte sie wirklich. Es waren nicht nur ein paar hilflose Tränen, weil sie sich elend fühlte oder krank. Es war ein Schluchzen aus ihrem tiefsten Innern. Die Starre, die sie umklammert gehalten hatte, löste sich. Es war, als habe sich eine Wunde geöffnet und als flösse das Gift hinaus, das in ihr gewirkt hatte.
»Aber das Schlimmste waren nicht die Schmerzen. Nicht einmal die Todesangst und die Übelkeit. Das Schlimmste war, daß sie es taten. Daß sie mich festhielten und mir... Es war wie eine Vergewaltigung. So habe ich mich gefühlt. So fühle ich mich jetzt. Beschmutzt und erniedrigt.«
Sie lag jetzt in seinen Armen. Sie durchweichte sein Hemd mit
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