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Das Haus Der Schwestern

Das Haus Der Schwestern

Titel: Das Haus Der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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sagte Charles, »wäre es besser, du kämst nicht nach Westhill. Ich habe mit Margaret gesprochen. Du kannst bei ihr wohnen, solange du möchtest.«
    »Ich verstehe«, wiederholte Frances. Der Kloß in ihrem Hals wurde dicker. Nicht weinen, nicht weinen, hämmerte es in ihrem Kopf.
    Durch die Fensterscheibe sah sie Mr. Wilson im Schein all der Lichter, die aus dem Haus fielen. Der Fahrer drückte ihm gerade Frances’ Reisetasche in die Hand. Hinter ihm tauchte Phillip auf.
    Phillip. Irgendwie bedeutete er einen Trost in diesem furchtbaren Moment.
    »Du steigst nicht mehr mit aus?« fragte Frances, obwohl sie die Antwort schon kannte.
    Charles schüttelte den Kopf. »Ich will den Spätzug nach Yorkshire hinauf noch erreichen. Margaret weiß Bescheid.«
    Er streckte seiner Tochter förmlich die Hand hin, und sie ergriff sie. Ihrer beider Hände waren eiskalt.
    »Auf Wiedersehen«, sagte er. Mr. Wilson öffnete die Wagentür. Phillip trat heran, bereit, Frances beim Aussteigen zu helfen. Feuchtkalte Luft strömte ins Innere.
    »Grüße Mutter von mir«, bat Frances, »und Großmutter. Und Victoria. Ach ja, und Adeline.« Es war gefährlich, all diese Namen auszusprechen. Die Tränen saßen sofort noch lockerer.
    Sie hielt sich an Phillips Arm fest. Verdammte Schwäche in den Beinen! Könnte sie doch jetzt wenigstens aufrecht von ihrem Vater fort ins Haus gehen! So mußte sie, gestützt von Phillip, davonschleichen. Die Wut darüber drängte die Tränen energisch zurück, und sie fand die Kraft, hinzuzufügen: » Grüße auch John von mir, bitte!«
    »Ach so«, sagte Charles, »das weißt du ja noch nicht. John hat die Stimmenmehrheit in unserem Wahlkreis gewonnen. Er hat es nun endlich ins Unterhaus geschafft. Man sagt, er habe eine glänzende Karriere vor sich.«

    Januar bis Juni 1911

    Irgendwo, so meinte Frances, hatte sie gelesen, jeder Mensch müsse einmal in seinem Leben durch eine wirklich schwere Krise gehen. Damit seien nicht einfach schwierige Zeiten, Mißerfolge, Fehlschläge gemeint. Sondern die tiefgreifende Erschütterung, die alles in Frage stellt, was das Leben bis dahin ausgemacht hat. Die Auflösung der Beständigkeit.
    Frances durchlitt diese Krise mit siebzehn Jahren. 1910 war grau und trostlos zu Ende gegangen, 1911 brachte keine Verbesserung. Gesundheitlich schien sie nicht wieder auf die Beine kommen zu wollen, sie blieb blaß und mager und fühlte sich oft so schwach, daß sie darüber in Tränen ausbrach. Eine tiefe Depression hatte von ihr Besitz ergriffen; oft versank sie in stundenlanges Grübeln, nachts fand sie keinen Schlaf. Sie sah so schlecht aus, daß Margaret alle paar Tage den Arzt kommen ließ, der Frances immer wieder von Kopf bis Fuß untersuchte, Blutarmut und Unterernährung diagnostizierte und Lebertran verschrieb.
    »Es ist Ihre Seele, nicht wahr?« fragte er, legte einen Finger unter Frances’ Kinn, hob ihren Kopf und zwang sie so, ihn anzusehen. »Sie quälen sich, Sie finden keine Kraft. Das ist durchaus nicht ungewöhnlich nach einer schweren Krankheit. Sie wären um ein Haar gestorben. Im Kampf gegen den Tod haben Sie sich völlig verausgabt. Sie haben keinerlei Reserven mehr. Es wird seine Zeit dauern, mein Kind.«
    Er ließ sie los und lächelte. »Alles dauert seine Zeit. Und weil das so ist, glaubt man manchmal, ein Zustand währe ewig. Das stimmt jedoch nicht. Alles verändert sich, und während wir noch die Stagnation sehen und fast verzweifeln an ihr, bahnt sich die Veränderung bereits an. Glauben Sie mir, während Sie hier sitzen und nichts fühlen als Schwäche und Verzweiflung, bauen sich schon neue Kräfte in Ihnen auf, und eines Tages werden Sie sie voller Erstaunen bemerken.«
    George besuchte sie; er war entrüstet, daß Charles auch mit ihr gebrochen hatte.
    »Guter Gott, was für ein Vater!« rief er wütend. »Er ist wirklich um nichts besser als sein eigener Vater. Wenn wir etwas tun, was ihm nicht paßt, wirft er alle Türen zu. Zerbrich dir bloß nicht den Kopf seinetwegen. Mach es wie ich. Führe dein eigenes Leben.«
    Auch Alice kam hin und wieder vorbei, eine Alice, an der das Gefängnis diesmal auch nicht spurlos vorübergegangen war. Sie rauchte mehr als früher und wirkte nervös und unruhig. Frances versuchte sich bei ihr zu entschuldigen; noch immer hatte sie den Eindruck, die anderen verraten zu haben, als sie sich von ihrem Großvater aus dem Gefängnis hatte holen lassen.
    Aber Alice sagte, sie brauche sich nicht zu schämen. »Du hast es

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