Das Haus der Seelen: Roman (German Edition)
wo auch immer er hinsah, reagierte der Nebel. Er schien vor seinem Blick zurückzuweichen, wirbelte und kochte vehement, als ob er aufgeregt sei oder etwas ihn aufstöre. Als er erneut mit der Hand hindurchfuhr, gab es keine Reaktion, aber er hatte das Gefühl, dass der Nebel seinen goldenen Blick gar nicht mochte. Dass der Nebel … vielleicht Angst davor hatte.
»Der Nebel«, rief Kim plötzlich aus. »Er ist die Präsenz!«
JC nickte langsam. »Ja. Das ist er. Ich habe von diesem Phänomen gehört, auch wenn ich es noch nie gesehen habe. Ich kenne keinen, der das hat. Aber ich weiß, was das ist, was das sein muss. Das ist selten, sehr selten. Es braucht eine Menge Energie, um so etwas zu produzieren und aufrechtzuerhalten … um es überhaupt möglich zu machen. Das ist Geisterlicht. Undifferenzierte Gespenster. Daraus werden nach einiger Zeit Geister. Wenn das Haus Geister ruft, dann bildet es sie aus diesem Nebel und verleiht ihnen Gestalt, Natur und einen Zweck.«
»Okay«, sagte Melody. »Das ist ja alles ganz prima und toll, aber was genau ist es denn jetzt? Reden wir hier von einer Art Ektoplasma?«
»Noch unheimlicher«, erklärte JC. »Was wir hier sehen, sind keine Wassertropfen, die in der Luft kondensieren. Unsere Augen interpretieren es als Nebel, weil Nebel das ist, was unser Verstand als dem Phänomen am ähnlichsten erkennt. Das ist … reines Potenzial, das rohe Chaos, aus dem sich die Ordnung entfaltet.«
»Ach, Scheiße«, bemerkte Melody.
Ungenaue, dunkle Gestalten begannen, sich aus den grauen Tiefen des Nebels zu schälen; einer nach dem anderen, ganze Reihen von ihnen. Sie standen unnatürlich still und erstreckten sich in allen Richtungen in Entfernungen, die weiter reichten, als das Gebäude eigentlich hätte beherbergen können. Die meisten dieser Gestalten waren humanoid oder wenigstens annähernd menschenähnlich. Andere waren größer, bulliger, missgebildet. Und einige waren nur abstrakte Formen, Eindrücke von Leuten, wie Albträume, denen man im Diesseits eine Form und eine Kontur gegeben hatte. JC wandte sich in alle Richtungen und versuchte, sich einen Überblick über die Anzahl zu verschaffen. Erfolglos. So viele Geister, die von der Schaffung der Neuen Menschen angezogen worden waren und von dem, was man dem Chimera House angetan hatte. Sie standen in Reih und Glied, als ob sie auf etwas warteten. Vielleicht auf eine Stimme, die ihnen sagte, was sie tun sollten.
»Habt ihr das gemerkt?«, wollte Happy leise wissen. »Sie scheinen alle dich anzusehen, JC. Sie beachten uns andere gar nicht. Was durchaus nicht unbedingt schlecht ist. Aber es ist interessant und möglicherweise sogar wichtig.«
»Diese Augen haben es in sich«, sagte Melody. »Diese Gestalten werden vom Licht angezogen.«
»Nein«, widersprach Kim. »Es ist mehr als das. Ich glaube, es liegt daran, dass JC von außen, vom Jenseits, berührt wurde. Das erkennen sie, und sie reagieren darauf.«
»Ja …«, meinte Happy. »Jetzt schnappe ich auch alle möglichen Dinge auf: Furcht, Faszination und eine ganze Menge anderer Dinge. Aber es fühlt sich nicht an, als wären das Leute. Ich schnappe nicht die geringste Spur eines fundamentalen Identitätssinns auf oder gar von Individualität. Es ist beinahe so, als sähe man sie von weit, weit weg an. Und es wirkt auf mich, als betrachteten sie JC … als einen der Ihren. Und dann sogar als einen, der mehr als das ist.«
JC sah Happy an, der unwillkürlich unter dem goldenen Blick zusammenzuckte. »Wie können das Geister und keine Menschen sein?«, wollte JC wissen. »Was sind Geister denn, wenn es keine Erinnerungen an Menschen sind?«
»Keine Ahnung! Es ist, als ob sie … erst zu Leuten werden! Das Geisterlicht benutzt die Erinnerungen von Gespenstern, um Gestalten zu schaffen, nicht umgekehrt! Das hier sind … Geisterkopien, die der Nebel gemacht hat, um … etwas zu tun!«
»Die Geister von London«, sagte Kim. »Aus der Vergangenheit, der Gegenwart und vielleicht sogar der Zukunft. Erinnerungen der Londoner Toten, die hergeholt wurden, um aus Geisterlicht neu geschaffen zu werden. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es so viele verschiedene Geister geben könnte. Ich glaube nicht, dass ein paar dieser Dinger, die sich aus dem Geisterlicht erhoben haben, überhaupt menschlich sind oder jemals waren.«
Happy stellte sich dicht neben JC, obwohl er immer noch sorgfältig darauf achtete, ihn nicht anzusehen. »Komm schon, JC, an dieser Stelle verlassen wir uns
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