Das Haus der Sonnen
Stationen ihres Lebens und vergegenwärtigte uns Ereignisse, die bereits viele Umläufe zurücklagen.
Ich war darauf gefasst gewesen, dass ich mich über Betonie ärgern würde, fand jedoch zu meiner eigenen Überraschung an seiner Rede nichts zu mäkeln. Später, als Mieres Leben am Himmel dargestellt wurde, vergegenwärtigte ich mir seine Worte und musste mir eingestehen, dass ich selbst keinen Deut daran geändert hätte; es gab nichts, was ich hätte stärker betonen oder hinzufügen wollen. Seiner Zusammenfassung ihres Lebens war die schlichte Schönheit eines Haikus eigen; er hatte es ein wenig ausgefeilt und poliert und mit Überzeugung und Respekt und mit der Zuneigung vorgebracht, die er ihr gegenüber auch in der Vergangenheit an den Tag gelegt hatte. Ich grollte ihm noch immer, weil er das Kommando übernommen hatte, doch als er über Miere sprach, schob ich jeden Gedanken an eine mögliche Verwicklung Betonies beiseite.
Als er seine Rede beendet hatte, zog er das Tuch von Miere herunter, so dass man das ganze Ausmaß der Verletzungen sah. Bis auf die Fingerringe war Miere nackt. Wir schreckten alle zusammen, auch diejenigen, die ihren Körper bereits unmittelbar nach dem Absturz gesehen hatten. Dann reichte Betonie seine Fackel einem anderen Splitterling und zog eine dicke schwarze Tube Maschinenaspik aus der Tasche. Er drückte sich einen Klumpen auf die flache Hand und schmierte den Aspik dort, wo ein Knochen die Haut durchstoßen hatte, auf Mieres Unterarm. Dann trat er einen Schritt zurück und drückte die Tube der neben ihm stehenden Reseda zwischen die dicken Finger. Betonie erhielt seine Fackel zurück und übernahm auch Resedas Fackel, während der andere Splitterling sich Aspik auf die Handfläche drückte und die Paste auf Mieres eingedrückter Stirn verteilte. Reseda reichte den Aspik an Hederich weiter, der die glänzende durchscheinende Masse auf Mieres Bauch auftrug. So ging es weiter, bis alle Anwesenden an der Reihe gewesen waren. Ich weiß nicht, weshalb ich der Letzte war; ob es Zufall gewesen war, oder ob die Gruppe den kollektiven Beschluss gefasst hatte, dass mir die letzte Berührung zufiel. Inzwischen war Mieres einziger von der Paste noch unbedeckter Körperteil das zerschmettere Zerrbild ihres Gesichts. Als ich den Aspik auftrug, berührte ich anstelle von weicher Haut harte Knochen und Knorpel, und ich musste mich mühsam beherrschen, um nicht in Tränen auszubrechen. Dann nahm ich von Portula meine Fackel entgegen und trat zurück. Meine Hand zitterte noch. Der Kreis hatte sich in der Zwischenzeit um die ruhende Gestalt geweitet.
Als ich fertig war, hatte der Aspik bereits seine Arbeit begonnen. Er drang so tief in Mieres Körper ein, wie es nötig war, um ihre Verletzungen ungeschehen zu machen. Ihr Unterarm versteifte sich augenblicklich, ihre Finger zitterten, als ob Miere träumte. Dort, wo der Knochen hervorgetreten war, schloss sich die Haut. Die Delle in ihrer Stirn glättete sich, und unter der rot glänzenden Maske kam ihre ursprüngliche Nase zum Vorschein. Die Nanomaschinen erweckten Miere nicht wieder zum Leben; dafür war es zu spät. Nicht dass die Illusion von neuem Leben außerhalb ihrer Macht gestanden hätte; sie hätten ihren Leichnam animieren, die Zellen reparieren, ihren Stoffwechsel wieder in Gang bringen und sie umhergehen, reden und lachen lassen können. Doch es wäre kein Leben in ihren Augen gewesen, zumindest keines, das Ähnlichkeit mit Miere besessen hätte.
Während der Prozess voranschritt, so dass die Gestalt auf der Unterlage immer weniger einem zerschmetterten Leichnam ähnelte und immer mehr einer schlafenden Frau, ging ein Geschwader unserer Raumschiffe über Ymir in Stellung. Sie unterbrachen ihren Orbit und nahmen am Rand der Ionosphäre fixe Positionen über Neume ein. Die Sonne war längst untergegangen, doch die Schiffe standen so hoch, dass sie noch immer die Sonnenstrahlen reflektierten, so dass sie einem Schwarm sichelförmiger neuer Monde glichen, gezeichnet in Silber, Gold und flammendem Rot. Die Raumschiffe nahmen eine Rechtecksformation mit mehreren Tausend Kilometern Kantenlänge ein. Dann aktivierten sie die Impassoren und projizierten Felder in die Ionosphäre, die mit der Magnetosphäre des Planeten wechselwirkten. Sie quetschten, krümmten, falteten und streckten die magnetischen Feldlinien und erzeugten eine Art Nordlicht. Vorhänge aus Licht, in zartestem Rubinrot oder Grün, erstreckten sich von Horizont zu Horizont.
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