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Das Haus der Sonnen

Das Haus der Sonnen

Titel: Das Haus der Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds , Norbert Stöbe
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Die Farben wurden immer intensiver, bis die Raumschiffe kaum mehr zu sehen waren, Puppenspieler, die im Verborgenen die Fäden zogen. Sie lösten Ionen von ihren Rümpfen und projizierten sie in die Atmosphäre, wo sie das Lichtkunstwerk tönten und färbten. Die Vorhänge flackerten und schimmerten und verwoben sich miteinander, tanzten immer schneller, während immer neue Farbtöne dazukamen, bis sich allmählich Formen herausbildeten. Aus den Formen entstanden Bilder: Wir sahen eine Sequenz von Bildern aus Mieres Strang, zusammengestellt anhand des Speicherinhalts ihres Raumschiffs. Da waren Landschaften und Städte, Monde und Planeten – ein imposanter Querschnitt der galaktischen Geschichte, an der wir alle teilgenommen hatten. Miere selbst trat nur selten in Erscheinung, doch wenn es geschah, war es umso ergreifender. Meistens wandte sie uns den Rücken zu, eine ferne Gestalt auf einer Klippe oder einem hohen Gebäude, eine Hand in die Hüfte gestemmt, mit der anderen die Augen vor der Sonne schützend, versunken in den Anblick der weiten Landschaft, durchdrungen von ihrem Menschsein, ein Affe, der den ganz großen Durchbruch geschafft hatte. Ihr Haar zeigte das elektrische Weiß eines Kometenschweifs und floss ihr aus der Stirn, als werde es vom Photonendruck zurückgekämmt.
    Während wir die Episoden betrachteten, welche die Raumschiffe an den Himmel malten, machte der Maschinenaspik Mieres Verletzungen nach und nach ungeschehen. Schließlich hatte das glänzende Netz sein Werk vollendet, glitt von ihr herunter und wartete auf die nächste Aufgabe. Vom Fackelschein in ein goldenes Licht getaucht, lag Miere unversehrt vor uns. Ihr Gesicht spiegelte heitere Gelassenheit wider. Die Augen hatte sie geschlossen, doch sie sah aus, als bräuchte es nur eines Zurufs oder eines unbeschwerten Gelächters, um sie aus ihrem Schlummer zu wecken.
    Die Plattform löste sich von dem Steinblock, auf dem sie geruht hatte. Es dauerte mindestens eine Minute, bis sie über Kopfhöhe aufgestiegen war. Dann beschleunigte sich der Vorgang, und sie stieg mit zunehmender Geschwindigkeit in den Himmel empor. Die Fackel, die sich bis jetzt so schwer angefühlt hatte, wurde leichter. Dann auf einmal war sie schwerelos, und nach einer Weile wollte sie mir aus der Hand gleiten. Auch die anderen Splitterlinge reckten die Arme, umklammerten ihre Fackel fester und warteten auf den verabredeten Moment.
    »Loslassen«, sagte Betonie ganz leise, und wir alle lie ßen los. Wir hatten den Zeitpunkt genau getroffen, denn die einundfünfzig Fackeln stiegen als flammender Ring empor und behielten die elegante Formation bei, bis sie die aufsteigende Plattform eingeholt hatten. Wir ließen die schmerzenden Arme sinken und beobachteten, wie die rechteckige Plattform immer kleiner wurde, bis wir den Feuerkreis nur mehr erahnen konnten.
    Es würde eine Weile dauern, bis Miere den Weltraum erreichte; uns blieb nichts weiter zu tun, als die Szenen ihres Lebens zu betrachten und darüber nachzusinnen, was sie uns bedeutet hatte. Ich verspürte tiefe Verbundenheit mit fast allen anderen Anwesenden, und das schloss auch Betonie und Mezereum und die anderen Splitterlinge mit ein, die ich für Portulas Bestrafung mitverantwortlich machte. Allerdings hatte ich das untrügliche Gefühl, dass sich jemand unter uns befand, der nicht um Miere trauerte. Ich versuchte, in den ernsten Gesichtern einen Hinweis auf geheuchelte Emotionen oder klammheimliche Genugtuung über den so geschickt durchgeführten Mord zu entdecken, sah jedoch nichts als aufrichtige Trauer.
    Mir war bewusst, dass wir nicht nur um Miere trauerten. Das war ihre Nacht, ihre Totenfeier, doch gleichzeitig wurden die Türen unseres Herzens weit aufgestoßen. Dies war die Nacht, da wir auch der über achthundert Splitterlinge gedachten, die bei dem Angriff ums Leben gekommen waren. Wir würden ihnen noch zum passenden Zeitpunkt die letzte Ehre erweisen; man würde ihnen Denkmäler errichten. Das bedeutete jedoch nicht, dass wir nicht jetzt schon anfangen konnten, um sie zu trauern. Als mich die Erkenntnis, was uns angetan worden war, mit neuer Wucht traf und ich mir das Ausmaß dieses Verbrechens bewusst machte – eine Erkenntnis, die des Anlasses von Mieres Totenfeier bedurft hatte -, wurde ich vom kältesten aller Schauder erfasst.
    Bald darauf hatte Miere den Weltraum erreicht, und die Plattform neigte sich und überließ ihre Last dem langen freien Fall durch Neumes Atmosphäre. Wir beobachteten,

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