Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus der Sonnen

Das Haus der Sonnen

Titel: Das Haus der Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds , Norbert Stöbe
Vom Netzwerk:
anderen.«
    Die Platte hatte damit begonnen, den Schädel zu teilen, so dass das Gesicht sich auf der einen Seite des Glases befand, die Ohren und der Hinterkopf auf der anderen. Sie wanderte mit einer Geschwindigkeit von einem Zentimeter pro Sekunde nach unten und stockte nur gelegentlich, wenn sie auf dichteres oder komplexeres organisches Material traf.
    Ich wusste, dass die Platte nur wenige Mikrometer dick war. Dennoch trennte sie Grilse so vollständig in zwei Hälften, als handele es sich um eine Guillotine aus Metall. Er starb nur deshalb nicht und konnte auch dann noch denken, als sein Gehirn bereits geteilt war, weil das Glas für biologische Funktionen so durchlässig war, als grenzten die beiden Hälften seines Körpers noch aneinander. Wie ich wusste, wurde das meiste biologische Material bis auf die Atome oder Grundmoleküle zerlegt, in die höchst anpassungsfähige Matrix eingelagert, hindurchtransportiert und an anderer Stelle (auf der einen oder der anderen Seite) entsprechend dem unterbrochenen Stoffwechselmuster wieder zusammengesetzt. Das Gleiche galt für die elektrischen und chemischen Impulse, welche die Synapsen miteinander austauschten.
    Inzwischen hatte das Glas seinen Kopf durchdrungen und teilte nun Schultern und Oberkörper. Sein Gesichtsausdruck hatte sich so geringfügig verändert, dass es auch an der Schattenwirkung der über die Piazza hinwegziehenden Wolken hätte liegen können. Der Maschinenaspik erlaubte es ihm, seine Gesichtsmuskeln ein Stück weit zu bewegen, damit wir seine Besorgnis oder auch sein Entsetzen über das, was mit ihm geschah, mitbekamen. Selbst wenn er jetzt hätte aussagen wollen, hätte Mezereum sich kaum davon abhalten lassen, die Prozedur fortzusetzen.
    Ich beobachtete gebannt und angewidert, wie das Glas das Tranchieren des Gefangenen vollendete. Als die Platte den Boden des Kastens erreicht hatte, kam sie zum Stillstand. Da die blassen Kanten der Platte nicht mehr zu sehen waren, hatte es den Anschein, als sei die körperliche Integrität des Gefangenen wiederhergestellt. Das war freilich eine Täuschung. Mezereum gab dem Kasten ein Zeichen, worauf er sich in zwei Hälften teilte, die jeweils einen Teil des tranchierten Mannes enthielten. Die beiden Hälften klappten auseinander, und das Innere des Mannes war nun einsehbar wie ein verschwenderisch illustriertes Buch. Die Glasplatte hatte sich offenbar in zwei dünne Schichten gespalten, die jeweils das Gewebe, die Muskeln, Sehnen und Knochen eindämmten und Körperflüssigkeiten pumpten, alles in rosaroten, weißen, roten und rotbraunen Farbtönen gezeichnet. Die sichtbaren Details der beiden Teile waren identisch, allerdings spiegelverkehrt. Und es war ein lebendiger Spiegel, denn der Mann lebte und atmete noch. Wir sahen, wie sich seine Brust hinter dem Glas hob und senkte, sahen den Umriss der Pleuralhöhle, sahen sein pumpendes Herz, dass einer sich im Zeitraffer öffnenden und schließenden Blüte ähnelte.
    Mezereum wartete einen Moment, bis wir uns mit dem Anblick vertraut gemacht hatten, dann drehte sie das Vorderteil, das mit dem Gesicht, bis es der zweiten Hälfte zugewandt war.
    »Das sind Sie«, sagte Mezereum und zeigte auf die lebendige anatomische Darstellung, in die er sich verwandelt hatte. »Das ist keine Projektion, sondern das sind Sie selbst, zweigeteilt und hinter Glas gefangen. Es ist wichtig, dass Sie das verstehen. Nicken Sie, wenn Sie das verstanden haben. Der Maschinenaspik erlaubt Ihnen die Bewegung.«
    Ich nehme an, der Mann hatte keine Wahl, als zu nicken, oder aber er wurde von der Maschine, in der er gefangen war, dazu gezwungen. Als er den Kopf neigte, vollzog seine andere Hälfte die Bewegung ohne Zeitverzögerung nach. Als die Kopfhälfte sich in die Glasscheibe vorneigte, geriet der Querschnitt seines Schädels mitsamt dem Gehirn in wogende Bewegung.
    »Das war die letzte bewusste Bewegung, die Sie ausführen werden«, sagte Mezereum. »Sie werden weiteratmen, das Blut wird durch Ihren Körper fließen, aber Sie werden in dieser Haltung fixiert bleiben. Natürlich können Sie weiterhin mit mir reden – mehr als Ihre Bereitschaft, endlich zu reden, brauche ich nicht.« Sie blickte effektheischend ins Publikum. »Der Tranchierprozess wird solange weitergehen, bis Ihre physische Existenz auf mehrere Hundert hauchdünne Scheiben unter Glas verteilt ist – und seien Sie versichert, dass ich so weit gehen werde. Sie können den Prozess jederzeit anhalten, indem Sie uns

Weitere Kostenlose Bücher