Das Haus der Sonnen
Verlieses. Seine Bewegungen wurden immer hektischer. Aus der Rüstung kam ein Geräusch, als pfeife der Wind durch eine undichte Tür. Seine Bewegungen wurden heftiger. Er warf den Kopf hin und her. Arme und Beine trommelten so schnell auf den Boden, dass das Auge ihnen nicht mehr folgen konnte. Relictus ließ sich nicht beirren. Als er drei Viertel des Textes aufgesagt hatte, gelangte der Krampf des Gespenstersoldaten zu seinem Höhepunkt – die Rüstung schepperte laut, aus ihrem Innern drang schauerliches Geheul -, dann verlangsamten sich die Bewegungen und wurden schwächer. Noch bevor Relictus die letzte Zeile des Zauberspruchs aufgesagt hatte, regte sich das Wesen nicht mehr. Der rote Nebel war nicht mehr zu sehen.
»Es ist vollbracht«, sagte Relictus, wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und atmete mehrmals tief durch. »Ich glaube nicht, dass ich einen Fehler gemacht habe. Dem Zustand des Gespenstersoldaten nach zu schlie ßen, war die Formulierung korrekt.«
»Ich hatte den Eindruck, dass er Schmerzen litt«, sagte ich; das Schauspiel hatte mir wider Erwarten mächtig zugesetzt. »Unaussprechliche Qualen.«
Relictus streckte die Hände vor, um sich erneut fesseln zu lassen. »Habe ich jemals etwas anderes behauptet?«
»Und die anderen Soldaten?«
»Wenn der Zauberspruch korrekt vorgebracht wurde und meine Überlegungen zutreffend waren, war dies nicht der einzige Gespenstersoldat, der heute gefallen ist.« Relictus lächelte – man sah ihm an, dass die Todesqualen der falschen Seele weniger Eindruck auf ihn gemacht hatten als der Tod einer Fliege. »Ich erwarte den Bericht des Waffenmeisters, Herrin. Ich glaube, er wird überaus erfreuliche Neuigkeiten zu vermelden haben.«
Ich ließ Relictus in seinem Verlies allein. Das Todesgeheul der falschen Seele tönte mir in den Ohren. Es sollte mich noch tagelang verfolgen.
Zehn Tage später tauchten wieder die grünen Agenten auf. Sie schleppten mich in den hellen Raum und stachen mir weitere Nadeln in die Haut. Schon beim letzten Mal waren sie sehr hartnäckig gewesen, nun aber machten sie einen geradezu gehetzten Eindruck, als hinge alles vom Ausgang dieses Einschreitens ab.
»Hör mir zu, Abigail«, sagte einer von ihnen, der sich über mich gebeugt hatte und mich mit einem rubinrot leuchtenden Stab blendete. »Du befindest dich immer noch im Innern des Palasts. Aber das ist nicht die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit befindet sich außerhalb. Blinzele, wenn du mich verstehst.«
Ich blinzelte, jedoch nur deshalb, weil ich die Männer hinters Licht führen wollte.
Am Ende setzten sie ihren Willen natürlich durch.
Ihre Eingriffe in meine Realität wurden immer häufiger, immer hartnäckiger, und die andere Wirklichkeit des wei ßen Raums wurde mit jedem Besuch dominanter, massiver, greifbarer. Die grün gekleideten Männer waren Ärzte und Techniker, keine Verräter oder Agenten eines anderen Reiches. Ganz allmählich begriff ich unter Schmerzen, was man mir immer wieder und wieder sagte. Ich war nicht die Prinzessin eines magischen Königreichs; ich hatte keinen Stiefbruder, der sich Graf Mordax nannte; ich verfügte über keinen privaten Zauberer mit Namen Relictus. All das waren Phantasievorstellungen, gewebt von einer Maschine, die Fehlfunktionen aufwies, die mich immer tiefer in die traumartige Geschichte hineingezogen hatten.
Ich war Abigail Gentian – Tochter und Erbin des angesehensten Klonkonzerns der Goldenen Stunde.
Ich würde in die Ferne reisen.
Trotzdem fiel es mir sehr schwer, das Reich der Prinzessin mit all seinen trügerischen Verlockungen loszulassen, denn dort konnte ich nicht nur über die Finanzen frei verfügen, sondern gebot auch über einen Magier, besaß die Macht, Gefangene zum Tod durchs Schwert zu verurteilen, und konnte Armeen aufstellen, die in meinem Namen in die Schlacht zogen.
Immer wieder verfiel ich dem Palast. Selbst wenn ich mich außerhalb des grünen Würfels aufhielt, übte er auch weiterhin Gewalt über mich aus. Meine Träume kehrten ständig zum Palast zurück, zu der Einfachheit jener feudalen Welt. Es war eine Zeit der Feste und des Triumphs. Wir hatten die Gespenstersoldaten besiegt; Mordax’ Armee war schwer getroffen.
Mordax selbst ließ nie wieder von sich hören.
Lange Zeit später, als die Psychochirurgen (dieselben, die sich auch um meine Mutter kümmerten) mich für geheilt erklärten, erfuhr ich, dass der kleine Junge weniger Glück gehabt hatte. Sein Puppenpalast
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