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Das Haus der Sonnen

Das Haus der Sonnen

Titel: Das Haus der Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds , Norbert Stöbe
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– das Instrument, mit dessen Hilfe wir unsere Phantasien miteinander geteilt hatten, obwohl wir uns nicht hatten sehen dürfen – hatte noch schwerwiegendere Defekte aufgewiesen als der meine. Man hatte einen grinsenden, sabbernden Pflegefall daraus hervorgeholt, und alle Versuche, seine Gehirnfunktionen wiederherzustellen, waren gescheitert. Jetzt lebte er ständig in dem Spiel, das unlösbar mit seinem Gehirn verdrahtet war. Nur wenn er spielen konnte, war er zufrieden.
    Ich hatte Glück gehabt. Man hatte mich gerade noch rechtzeitig herausgeholt.
     
    Zumindest hatte ich das immer geglaubt. Manch anderer Dinge war ich mir weniger gewiss. Ich wurde geboren in einem großen, sich ständig wandelnden Haus am Rande der Goldenen Stunde, und in meiner künstlich verlängerten Kindheit hatte ich einen Gefährten, der mich gelegentlich besuchen kam und mit mir spielte. Ich erinnerte mich an sein Shuttle und die Robots, welche nach dem Andocken die Rampe heruntergerollt kamen. Er war ein grausamer kleiner Junge, und seinen Namen weiß ich nicht mehr. Vielleicht war er der Sprössling einer rivalisierenden Familie, und es gab optimistische Pläne für eine Heirat, Dekaden in der Zukunft. Außer Zweifel steht jedoch, dass ich einen Puppenpalast besaß, der irgendwann kaputtging und mich nicht mehr losließ.
    Unterdrückt man eine Erinnerung, gibt es meiner Ansicht nach zwei Möglichkeiten. Entweder die Erinnerung bleibt verschüttet und ist weder für das Bewusstsein noch das Unterbewusstsein zugänglich. Oder – und das ist viel wahrscheinlicher – die Erinnerung verleiht sich über Umwege Ausdruck. Sie sickert in andere Erinnerungen ein, verzerrt sie und formt sie entsprechend der unterdrückten Wahrheit um.
    Ich dachte an den sterbenden Gespenstersoldaten, an das qualvolle Geheul, das alle Gewissheiten meines Erwachsenenlebens durchschnitt.
    Hatten wir ein ruchloses Verbrechen begangen?
    Oder genauer gefragt: Hatte ich mich schuldig gemacht?
     
    Der letzte Ort, den ich meines Wissens als Abigail aufsuchte – auch wenn meine Geschichte damit nicht zu Ende ging -, war der Raum, in dem wir die Splitterlinge züchteten. Dies war ein großer Kuppelsaal mit funkelnden wei ßen Balkonen und Leitern. Die Bioreaktoren waren kreisförmig gestapelt. Abgesehen vom Summen der Maschinen, welche die Reaktoren versorgten, und dem gelegentlichen Zirpen oder Piepsen eines Überwachungsgeräts, war es so still wie in einer Krypta. Alles in dem Raum wirkte steril und kalt. Eher war dies ein Ort des Todes als der Beginn einer dem Leben zugewandten, leidenschaftlichen Unternehmung. Ludmilla Marcellin hatte eintausend Klone von sich hergestellt, doch in diesem Raum gab es nur neunhundertneunundneunzig gentianische Splitterlinge. Der tausendste Bioreaktor war noch leer.
    Als sie ihre Raumschiffe in die Leere des Weltraums entsandt hatte, war Ludmilla zurückgeblieben. Das größte Paradoxon ihres Abenteuers bestand darin, dass sie in der Goldenen Stunde bleiben musste, wenn sie sich in der Bewunderung der Gesellschaft sonnen wollte, die sie hervorgebracht hatte. Sie musste sich mit der Vorstellung trösten, dass ihre geklonten Facetten, die über sämtliche Erinnerungen verfügten, die sie bis zum letzten Scan erworben hatte, zu den Sternen flogen. Wenn alles gutging – und ich glaube, Ludmilla Marcellin hegte in dieser Beziehung nicht den geringsten Zweifel -, würden sie ihre Persönlichkeit in eine unvorstellbar ferne Zukunft tragen. Eines fernen Tages würden sie sich vielleicht sogar wieder zu einem einzigen menschlichen Wesen vereinen, zu einer Person, die sich für Ludmilla Marcellin hielt, auch wenn das ursprüngliche Individuum dieses Namens längst tot und vergessen sein sollte.
    Auch ich war nicht immun gegen die Verlockung, die von der Bewunderung der Gesellschaft ausging. Doch da ich nicht die Erste war und auch nicht die Idee gehabt hatte, wäre für mich weit weniger Ruhm abgefallen als für Ludmilla. Deshalb entschloss ich mich, die Klone zu begleiten, anstatt zu Hause zu bleiben.
    Sobald meine Erinnerungen ein letztes Mal gescannt wären, würde man mich chirurgisch auf das Einsetzen in den Reaktor vorbereiten. Mein Wachstum würde mit dem der anderen Splitterlinge synchronisiert werden. Mein Geschlecht würde zufällig festgelegt werden. Niemand, auch nicht die Techniker, welche die Klonprogramme entwickelt hatten und sie überwachten, würden einen grundlegenden Unterschied zwischen mir und den Klonen feststellen

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