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Das Haus der Sonnen

Das Haus der Sonnen

Titel: Das Haus der Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds , Norbert Stöbe
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Bei dem momentanen Faktor der Zeitkompression hätte Hesperus mehrere Stunden in der gleichen Haltung verharren müssen, um ihn wahrzunehmen. Es gab keinen Grund zu glauben, er könnte sich dort draußen aufhalten. Wenn die Kammer mir nicht doch noch die Steuerung überließ, die sie mir nach Einsetzen der Stasis entzogen hatte, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich hier drinnen sterben würde.
    Diesen Gedanken wälzte ich zum tausendsten oder zehntausendsten Mal durch meinen Kopf, als die Stasiskammer mich mit ruhiger Stimme informierte, der Übergang in die Realzeit stehe unmittelbar bevor. »Der Stasisfaktor beträgt momentan einhunderttausend und ist im Sinken begriffen«, sagte die Stimme. »Zehntausend, weiter abnehmend. Feldstabilität optimal.«
    Der Faktor sank von zehntausend auf eintausend, hundert, zehn, und dann gab das Feld mich frei. Die Gurte lockerten sich, und ich konnte Hände und Füße aus den Schlingen ziehen. Ich konnte den Kopf wieder bewegen. Hals und Rückgrat fühlten sich wie versteinert an. Ich konnte die Stasis wirklich nicht ausstehen.
    Die Tür öffnete sich mit einem leisen Zischen, und der Stuhl wurde vorgeschoben. Ich biss die Zähne zusammen und stand auf, wobei ich mich mit einer Hand an der Stuhllehne abstützte. Ich hatte nach meinem subjektiven Zeitempfinden weniger als vierundzwanzig Stunden in der Kammer verbracht, doch wenn der Stasisfaktor die ganze Zeit über eine Million betragen hatte, waren an Bord der Arche währenddessen dreitausend Jahre verstrichen. Ich humpelte zur Wand und streifte in der absurden Erwartung, es habe sich eine Staubschicht gebildet, mit der Hand über das weiße Material. Meine Fingerspitzen aber blieben makellos sauber. Sämtliche Oberflächen im Raum glänzten wie frisch poliert, als wären sie nur wenige Minuten alt.
    »Hesperus?«, krächze ich, dann räusperte ich mich und versuchte es erneut. »Hesperus? Ich bin’s, Portula. Ich bin draußen.«
    Ich bekam keine Antwort. Ich atmete die uralte unbewegte Luft ein. In diesem Raum gab es Atome, die seit dreißig Jahrhunderten in keiner menschlichen Lunge mehr gewesen waren.
    Im angrenzenden Raum fiel mir durch die offene Tür etwas ins Auge – bunte Farben und funkelndes Glas. Mit schwankenden Schritten trat ich vorsichtig aus dem Stasisraum hinaus. Nebenan stand ein weißer, gedeckter Tisch, davor ein weißer Stuhl. Das Frühstück war aufgetragen. Es gab ein Glas mit frisch gepresstem Orangensaft, einen Teller mit einem Croissant, eine Kanne Kaffee und eine Schale mit Obst. In einer Vase standen Blumen, und auch eine gefaltete weiße Menükarte fehlte nicht. Das Croissant war noch warm. Ich schnupperte am Kaffee – er war schwarz, stark und brühwarm, wie ich ihn gern hatte. Ich schob den Stuhl zurück und setzte mich, froh darüber, meine schlotternden Beine ausruhen zu können. Ich goss Kaffee in eine weiße Porzellantasse und schwelgte eine Weile in dem Aroma, bevor ich mir den ersten Schluck gönnte. Nach einem Tag in der Stasiskammer war ich ausgehungert. Nach dem ersten Bissen konnte ich gar nicht mehr aufhören. Ich verspeiste das Croissant und drei Früchte. Ich stürzte den Orangensaft hinunter und trank zwei Tassen Kaffee. Dann erst nahm ich mir die weiße Karte vor. Auf der Innenseite stand eine Nachricht in anmutiger goldener Handschrift. Sie war elegant, aber einen Tick zu präzise, als dass sie von einem Menschen hätte stammen können. Hesperus hatte mit seinem Namen unterzeichnet, obwohl das eigentlich unnötig gewesen wäre.
    Er schrieb, er bedaure, dass er mir am Tag meiner Befreiung aus der Stasis keine Gesellschaft leisten könne, da er aufgehalten werde. Er habe von den Dienstrobotern der Arche kurz vor Ablauf meines Stasisaufenthalts ein Frühstück zubereiten lassen; er hoffe, dass er meinen Geschmack getroffen habe. Zu dem Zeitpunkt, da er die Nachricht verfasste, habe mein Wiedereintreten in die Normalzeit noch Jahrhunderte in der Zukunft gelegen – doch er vertraue darauf, dass die Dienstroboter seine Anweisungen peinlich genau befolgen würden.
    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch leben werde, wenn du dies liest«, hatte Hesperus geschrieben. »Wenn ja, findest du mich auf der Brücke der Silberschwingen . Ich würde dich wirklich gern sehen, aber die Umstände erfordern, dass du zu mir kommst, nicht ich zu dir. Bevor du das tust, würde ich dir dringend empfehlen, einen Blick in den Hangar zu werfen – ich glaube, dessen Inhalt wird dich überraschen.

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