Das Haus der tausend Blueten
weiteres Mal.
Passion, vom lateinischen Wort »passio« für »Leiden«. Das ist es! Die Beziehung zwischen Heiligkeit und Leiden!
Sie führte ihre Überlegung aus. Ihren Worten folgte ein zustimmendes Kopfnicken.
Als Nächstes sprachen sie über die gegenwärtig in Mode stehenden kubistischen Gemälde und über atonale Musik. Lu See wurde nach ihrer Meinung zu Stalin, den Moskauer Schauprozessen und dem jüngsten japanischen Angriff auf China gefragt. Dann sprachen sie über das Leben im College und das Vorlesungsverzeichnis. Schließlich fragte Dr. Coutts Lu See, ob sie sich bereit erklären würde, im September eine spezielle Aufnahmeprüfung abzulegen.
»Ja, natürlich. Es wäre mir eine Ehre.«
»Die Prüfung besteht aus einem allgemeinen Teil und einem Aufsatz in vergleichenden Religionswissenschaften.«
Als Lu See sich zum Gehen erhob, händigte ihr Miss Watts-Thynne eine umfangreiche Lektüreliste mit theologischen Texten aus, dazu eine Karte, die sie berechtigte, die Bibliothek der Divinity School zu benutzen.
»Tun Sie Ihr Möglichstes. Wir hoffen, Sie im September zu Beginn des Herbsttrimesters bei uns begrüßen zu dürfen.«
Nur wenige Augenblicke später trat Lu See aus dem dunklen Arbeitszimmer in das helle Sonnenlicht des Vormittags hinaus. Vor dem Vorstellungsgespräch hatte sie sich gefühlt, als hätte sie Bleigewichte an den Füßen. Jetzt lief sie so leichten Schrittes dahin, als wären ihr Flügel an den Knöcheln gewachsen. Sie hatte das Gefühl, als hätte man sie in alle Einzelteile zerlegt und wieder neu zusammengesetzt. Mit diesem Gefühl fuhr sie mit ihrem Fahrrad die Huntington Road entlang, während in ihrem Kopf immer die gleichen Gedanken kreisten.
Ich glaube, das ist ganz gut gelaufen. Ich hoffe, sie finden mich sympathisch. Ein allgemeiner Teil und ein Aufsatz in vergleichenden Religionswissenschaften. Wir sehen Sie zum Herbsttrimester …
Nach fünf Minuten hielt sie an und nahm die Liste mit Theologiebüchern aus ihrem Korb. Sie zählte achtundsechzig Titel. Ihr brach der Schweiß aus.
Verdammt! Achtundsechzig verflixte Lehrbücher! Bis September sind es weniger als … Sie zählte die verbleibende Zeit an ihren Fingern ab. Weniger als sechs Monate! Das sind fast zwölf Lehrbücher pro Monat!
Als sie zum Portugal Place zurückkehrte, sah sie aus dem Fenster im ersten Stock eine lange Stange mit roten, blauen und weißen Geschirrtüchern ragen. Wäsche, zum Trocknen aufgehängt, flatterte hoch oben im Wind wie tibetische Gebetsfahnen.
»Was soll denn das?«, fragte sie Sum Sum, als diese ihr die Tür öffnete.
»Für Glück und Glückseligkeit. Ist mein Art, Götter zu besanften. Mrs Slackford noch nicht zu Hause, ist noch auf Markt. Wie war Werbungsgespräch?«
Sum Sums Augen waren blutunterlaufenen, ihr Blick huschte die mit Kopfsteinen gepflasterte Straße auf und ab.
Lu See holte erschrocken Luft, als sie Sum Sums Gesicht sah. »Was ist denn mit dir passiert?«
Sum Sum berührte leicht ihre Nase und zuckte schon bei dem Gedanken an den unvermeidlichen Schmerz zusam men. » Aiyoo! Ich so dumm, lah . Ich hab Bild von großes College gemacht und bin auf Brücke geklettert, um prima Foto zu bekommen. Aber dann bin ich ausgerutscht und gefallen und mit mein Kopf auf Boden geschlagen. Kamera ist kaputtgegangen und in Fluss gefallen.«
»Soll ich dich zu einem Arzt bringen?«
»Nein, lah! « Sum Sum klang gekränkt. »Nur kleiner Unfall. Tut mir leid wegen Kamera.«
Genau in diesem Moment schoss Blut aus ihrer Nase und lief ihr übers Kinn.
»Du brauchst dir doch keine Sorgen wegen der Kamera zu machen. Hier, nimm das Taschentuch und halte den Kopf hoch. Ich besorge dir Eis zum Kühlen.«
Sum Sum legte den Kopf in den Nacken und versuchte, den Schmerz zu ignorieren. Ihre aufgeschürften Hände und Ellbogen sollte sie erst viel später bemerken.
6
In der darauffolgenden Woche versprach Adrian den Mädchen, mit ihnen nach London zu fahren, um Lu Sees Erfolg zu feiern.
Ein Tag im Zoo und ein Besuch im Museum für Naturgeschichte! Lu See konnte ihre Begeisterung kaum im Zaum halten.
»Das wird ein Riesenspaß, meinst du nicht auch, Kürbiskopf? Du wirst vielleicht sogar deine Festminister-Abtei sehen. Wenn wir in London sind, werde ich Conrad P. Hughes, dem Orgelbauer, einen Besuch abstatten.«
Pietro hatte beschlossen, sie bei ihrem Ausflug zu begleiten.
Sie schlenderten im Wartesaal des Bahnhofs von Cambridge umher, bevor sie in den 9.45-Uhr-Zug nach King’s
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