Das Haus der tausend Blueten
die erste deiner Ängste, die du besiegt hast. Jetzt bist du offiziell eine Fassadenkletterin. Das war deine Feuerprobe. Genieße den Augenblick.«
5
Es war Montag, der 2. März 1936. Der Tag des Vorstellungsgesprächs. Mrs Slackford war noch vor Sonnenaufgang aufgestanden, um den Ofen anzuheizen.
Während Sum Sum immer wieder ihre Gebetsperlen durch die Finger gleiten ließ, saß Lu See mit einer Tasse Tee am Tisch und las Zeitung, wobei sie mit einem Stift all jene Artikel markierte, von denen sie glaubte, dass sie für ihr Gespräch von Bedeutung sein könnten. Sie war sich sicher, dass man sie zur Tagespolitik befragen würde. Die meisten der heutigen Schlagzeilen bezogen sich jedoch auf die irreführenden Worte von Edward VIII . und die Gerüchte über seine Beziehung zu Wallis Simpson. Sie streckte die Hand aus und rieb Ganeshas Bauch, in der Hoffnung, dass ihr das Glück bringen würde.
Eine Stunde später fuhr sie mit dem Fahrrad, das sie sich gemietet hatte, die Castle Street entlang, radelte dann unter Zedern, Eicheln und Pappeln auf der Huntington Road dahin und traf eine volle halbe Stunde vor ihrem Termin um neun Uhr ein.
Sie lehnte das Fahrrad an die Pförtnerloge und wartete in der Kälte.
Cloister Court, Zimmer 11. Lu See holte tief Luft, dann klopfte sie an die Tür. Als sie eintrat, fand sie sich in einem kleinen dunklen Arbeitszimmer wieder, dessen Wände mit unzähligen Bücherregalen zugestellt waren.
Die Leiterin von Girton, Dr. Mildred Coutts, die einen blauen Cardigan mit Perlenknöpfen trug, ergriff das Wort.
»Miss Teoh, ich möchte Ihnen zunächst Dr. Agnes Brooks, unsere Studiendirektorin, vorstellen.«
Dr. Brooks klemmte sich ihre Pfeife zwischen die Zähne und schüttelte Lu See die Hand.
»Und das hier ist Miss Watts-Thynne, Dozentin für Theologie und eine unserer Tutorinnen.«
Sie nahmen auf Stühlen mit steifer Lehne Platz, wobei Lu See den drei Damen direkt gegenübersaß.
»Wir freuen uns, dass Sie heute zu uns kommen konnten, Miss Teoh«, sagte Dr. Coutts. »Sie haben von Ihrem ehemaligen Direktor an der Bing Hua School ausgezeichnete Referenzen mit auf den Weg bekommen, und ich möchte anmerken, dass Sie in Ihren Senior School Certificates wirklich beeindruckende Noten vorweisen können. Trotzdem möchte ich Sie bitten, uns zuerst ein wenig von sich zu erzählen.«
Lu See begann über Malaysia zu sprechen, über ihre schulische Laufbahn und darüber, dass Girton ihrer Ansicht nach das richtige College für sie sei. Während sie sprach, sackten ihre Schultern langsam nach vorn. Sitz gerade!, hörte sie die Stimme ihrer Mutter laut in ihrem Kopf. Du sollst gerade sitzen! Sofort wurde Lu Sees Rücken wieder steif wie ein Brett.
»Warum ist Ihre Wahl auf Girton gefallen?«, fragte Dr. Brooks. »Warum nicht auf das Newnham College?«
Und Miss Watts-Thynne fügte hinzu: »Oder eine der Ein richtungen in Oxford – St. Hilda’s, Somerville oder Lady Margarat Hall?«
»Die Geschichte dieses Colleges fasziniert mich, da es das erste Frauencollege in diesem Land ist.«
»In der Tat, das ist es. Wissen Sie auch, wie die ersten Studentinnen, die wir hier aufgenommen haben, genannt wurden?«, fragte die Leiterin.
Lu See nickte. »Die Pionierinnen.«
Miss Watts-Thynne unterbrach sie. »Aber Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass man uns nicht als offizielles College der Universität anerkennt, zumindest im Moment noch nicht. Man sieht uns noch immer als Bildungseinrichtung für höhere Töchter.«
Lu See bestätigte, dass ihr auch dies bekannt war.
»Purer männlicher Chauvinismus und in der Sache natürlich völliger Unfug.« Dr. Brooks kaute wütend auf ihrer Pfeife herum. »Gibt es noch andere Gründe, weshalb Sie sich für Girton entschieden haben?«
Ein Lächeln huschte über Lu Sees Gesicht. »Nun, ich muss gestehen, dass ich eine glühende Verehrerin von Sarojini Naidu bin. Ich liebe ihre Gedichte.«
»Wollen Sie in ihre Fußstapfen treten?«
»Nein, ich will nicht in die Politik gehen. Aber ich betrachte sie als Vorbild für alle Frauen dieser Welt. In diesem Sinne möchte ich ihrem Beispiel folgen.«
»Sie wollen Theologie studieren?«, fragte Miss Watts-Thynne.
»Ja. Da ich in Malaysia aufgewachsen bin, bin ich mit dem Islam, dem Hinduismus, dem Buddhismus und sogar dem Sikhismus vertraut. Es würde mir sehr gefallen, dieses Wissen zu vertiefen.«
Nachdem sie gemeinsam das Frühstücksgeschirr abgespült hatten, gingen Sum Sum und Mrs Slackford in die Stadt.
Weitere Kostenlose Bücher