Das Haus der tausend Blueten
Den Binsenkorb in der Hand, marschierte die Hauswirtin zielstrebig die Sidney Street entlang, während Sum Sum ihr auf dem Fuß folgte.
Als sie in die Petty Cury einbogen, blieb Sum Sum stehen, um mit der Kodak eine Straßenszene einzufangen: einen jungen Straßenhändler mit seinem Karren, der Kabeljau und Hering zu acht Penny pro Pfund verkaufte. Die Fische zap pelten in großen Bottichen, die mit Wasser gefüllt waren. »Frrrischer Herrring! Dirrrekt aus Southwold Harrrbour!«
Die Strahlen der Morgensonne blendeten Sum Sum. Mrs Slackford war bereits gute zehn Meter voraus, da beschlich Sum Sum plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Seit ihrer Ankunft in England war sie ihrer Umgebung gegenüber immer wachsamer und misstrauischer geworden. Einen Moment lang glaubte sie, sie würde sich das nur einbilden, dann aber sah sie einen Mann vor einer Reihe von Bäckerständen stehen. Eine dunkle Gestalt vor dem gleißenden Licht der Sonne. Unsicher lächelnd schirmte sie ihre Augen mit einer Hand ab, um sein Gesicht erkennen zu können, aber die Sonne blendete sie noch immer. Als sie sah, dass er sich langsam auf sie zubewegte, verkrampfte sich etwas in ihrem Inneren. Sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Hilfe suchend sah sie sich nach Mrs Slackford um, aber die Hauswirtin war verschwunden.
Als die Sonne in ebendiesem Moment hinter einer Wolke verschwand, sah Sum Sum sein Gesicht.
Das Muttermal auf seiner linken Wange war so dunkel und glatt wie schwarzer Onyx.
Sie rannte.
»Wen beten die Buddhisten an?«, fragte Miss Watts-Thynne.
Lu See holte tief Luft. Eine Fangfrage. »Niemanden. Weil Buddha nicht als Gott angesehen wird, zumindest nicht im Sinne eines Schöpfergottes. Das Wort ›Buddha‹ bedeutet ›der Erleuchtete‹. Siddharta Gautama war nach allem, was man weiß, ein geistiger Lehrer und kein Gott.«
»Warum vergöttern die Buddhisten Buddha dann? In buddhistischen Tempeln und Klöstern im gesamten Orient gibt es Buddhastatuen. Das ist doch zweifellos eine Form der Ikonolatrie – und damit der Beweis für die Anbetung eines Gottes.«
»Ich würde nicht sagen, dass sie ihn anbeten, aber sie zollen seinem Bildnis und seinen Lehren tiefen Respekt. Die Statuen helfen einem Buddhisten dabei, seinen Geist auf die Meditation zu konzentrieren. Ich denke, der Buddhismus sollte mehr als Philosophie denn als Religion verstanden werden. Auf ihn trifft keine der Definitionen von Religion wirklich zu.«
Auf dem alten Straßenschild stand Falcon Yard, aber als Sum Sum die Gasse entlangrannte und nach links abbog, weil sie dort den Marktplatz vermutete, wurde sie zu ihrem größten Entsetzen enttäuscht: Die Gasse wurde immer schmaler und dunkler und endete schließlich vor einem verfallenen Pub.
Sie saß in der Falle.
Hinter ihr ertönte das Geräusch von Schritten auf Stein.
Sum Sums Blick hetzte hin und her, sie suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Sie versuchte in das Pub hineinzukommen, aber die Tür war verschlossen.
»Hilfe!«, schrie sie. »Hört mich jemand?«
Der Druck in ihrer Brust wurde immer schlimmer.
Das Schweigen, das ihr statt einer Antwort entgegenschlug, zeigte, dass sie alleine war. Die Gasse war vollkommen verlassen, alle Gebäude ringsum standen leer. Sie warf einen Blick über ihre Schulter und hoffte, dass der Mann ihr nicht gefolgt war. Vielleicht war es ihr ja gelungen, ihn abzuschütteln!
Aber nein. Da war er.
Jetzt konnte sie ihn ganz deutlich sehen. Er keuchte, noch außer Atem von der Verfolgungsjagd. Die Schatten der Gasse betonten die Missbildung seiner Schultern.
»Gehen Sie weg!«, schrie Sum Sum ihm entgegen.
Sie sah etwas Metallisches aufblitzen. Er hatte offenbar ein Messer in der Hand.
Sum Sum wich zurück, bis sie mit dem Rücken gegen das Mauerwerk stieß.
Er kam näher. Der widerliche Geruch von Kampfer stieg ihr in die Nase. Die Kleidung und die Haut des Fremden stanken penetrant nach einer antiseptischen Salbe.
Plötzlich war sein Gesicht direkt vor ihrem. Sie wehrte mit der Hand die flache Seite der Klinge ab, als er ihr diese gegen den Bauch drückte.
»Sie wollen Kamera? Hier, nehmen Sie! Ich geb Ihnen Negative und alle Fotos.« Sum Sum zog ein Päckchen aus ihrem Mantel. »Ich hab nur ein einziges Foto von Sie.«
»Das ist genau das, was auch Mr Quek sagte, nachdem er die Negative entwickelt hatte.« Er ließ sie nicht aus den Augen. »Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich dich niemals gefunden.«
Sie spürte seine Finger über ihren
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