Das Haus der tausend Blueten
August 1945 wussten alle, dass die Japaner den Krieg verloren hatten. Die Nachricht von der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki wurde mit einer Mischung aus Staunen und Ehrfurcht aufgenommen – wie, so fragten sich die Menschen, war es möglich, dass so große Städte in Sekundenschnelle völlig zerstört werden konnten?
In Po On Village war die Veränderung deutlich spürbar. Die Menschen auf den Straßen lächelten wieder. Anstelle des Aikoku Koushinkyoku schallten jetzt amerikanische Jazzlieder aus den Grammofonen, und die Ladenbesitzer begannen wieder englische Schilder aufzuhängen, die jene in Katakana beschrifteten ersetzten.
Auch Oberst Tozawa hatte sich verändert. Eine Weile versuchte er noch so zu tun, als wäre alles so wie immer, irgendwann aber gelang es ihm nicht mehr, diese Fassade aufrechtzuerhalten. Er wurde immer schweigsamer. Schließlich aß er so gut wie nichts mehr.
»Bitte, o-Oberst-sama «, drängte Lu See ihn, während sie sich, die Hände auf die Oberschenkel gelegt, vor ihm verbeugte. »Sie haben jetzt tagelang Ihr Essen nicht angerührt. Sie müssen etwas essen.«
Sein Gesicht sah hager aus. Er hatte offensichtlich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr geschlafen. Und er polierte immer wieder sein Schwert.
Lu See fürchtete, er könnte sich umbringen.
Sie wollte nicht, dass das geschah. Er hatte sie und ihre Familie die ganze Zeit vor seinen Landsleuten beschützt, und sie achtete ihn deshalb sehr.
Dann denkst du also, dass er unser Schutzengel ist, ja?, hörte sie ihre Mutter oft sagen. Und so wie immer hatte sie das Bedürfnis, ihn zu verteidigen.
Aber warum? Magst du ihn? Liebst du ihn?
Nein. Aber es war ihr einfach nicht egal, was mit ihm geschah. Manchmal, vor allem, wenn er betrunken war, hatte er ihr Angst eingejagt, aber er hatte sich ihr gegenüber stets höflich und korrekt verhalten. Er hatte sie nie als sein Eigentum behandelt. Und dennoch wusste sie, dass sie die Tatsache, dass er sie nicht misshandelt hatte, nicht als einen Akt der Freundlichkeit missverstehen durfte.
»Möchten Sie, dass ich Ihnen einen Shepherd’s Pie zubereite?«, fragte sie ihn jetzt. »Oder den Bread-and-butter-Pudding, den Sie so sehr mögen?«
Er starrte das katana -Schwert an, das an der Wand hing, dann musterte er seine Hände, den Blick hatte er jedoch nach innen gerichtet wie ein trauernder Vater.
»Soba-Nudeln«, stieß er dann durch zusammengebissene Zähne hervor. »Ich bin das britische Essen leid. Machen Sie mir etwas von zu Hause. Soba-Nudeln mit Tofu und eingelegtem Gemüse.«
»Ja, natürlich, o-Oberst-sama .« Sie drehte sich um.
»Und Teoh-san …« Seine Stimme hörte sich so sanft wie fallender Regen an. Ihre Blicke trafen sich. Sie standen mehrere Sekunden lang stumm unter dem sich langsam bewegenden Deckenventilator. »Vielen Dank.«
Vor dem Krieg war Tamarind Hill ein geschmackvoller weitläufiger Landsitz am Rande einer großen Gummiplantage gewesen. Das Gebäude stand auf einer Anhöhe mit Ausblick auf den Juru und vereinte sowohl östliche als auch westliche Architekturelemente. Der Fußboden in der prächtigen Eingangshalle bestand aus italienischem Marmor. Die im chinesischen Stil gehaltenen Türen und die Treppenaufgänge waren aus tropischem Holz gefertigt, und die kunstvollen gusseisernen Badewannen hatte man mit dem Schiff aus Shropshire kommen lassen.
Auf der Rückseite des Hauses befand sich eine breite Veranda, von der aus man einen schönen Blick auf ein kleines Kokospalmwäldchen hatte. Es gab eine Bibliothek mit englischer und chinesischer Literatur, ein Billardzimmer, ein Mah-Jongg-Studio und eine Galerie, die eine Sammlung seltener Schwarzholzstühle mit Perlmuttintarsien beherbergte. Und wenn der Patriarch, Lu Sees Vater, sich im Haus aufhielt, hisste der Hausmeister im Morgengrauen die Flagge des Heiligen Georg, um die Woos von seiner Anwesenheit wissen zu lassen.
All das gehörte jedoch der Vergangenheit an. Jetzt waren da nichts als leere Räume voller Spinnweben, Räume, in denen Fliegen auf den Fensterbrettern dösten und Schimmel in der Hitze erstarrte.
Am 13. September erklärte der Kommandant der 29. Heeresgruppe der Japaner, Lt. General Ishiguro gegenüber Lt. General Ouvry Roberts, Kommandant des XXXIV . Indian Corps im Victoria Institution in Kuala Lumpur, die Kapitulation.
Was folgte, war das absolute Chaos.
»Gemäß Dekret des Kaiserlichen Kriegsbüros«, las Lu See auf dem Plakat auf dem Dorfplatz, »sind alle
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