Das Haus der tausend Blueten
hatte.
Onkel Hängebacke hatte stets gesagt, dass das, was er am meisten an Tamarind Hill liebe, seine beruhigende Atmosphäre sei. 1942 hatten die Japaner diesen Frieden zerstört. Sie waren vom Norden her, von der thailändischen Grenze, nach Malaysia einmarschiert und auf dem Landweg vorge rückt. Aber statt durch den Dschungel vorzudringen, wa ren sie mit Lastwagen und Fahrrädern auf der von Norden nach Süden führenden Straße vorgestoßen. Auf ihrem Marsch durch die Dörfer und Städte hatten sie jeden, der ihnen begegnete, durchsucht, Wertsachen und Bargeld konfisziert. Als die Soldaten in Tamarind Hill eingefallen waren, hatten sie allen Bediensteten befohlen, sich in einer Reihe aufzustellen. Dann hatten sie die jüngsten Dienerinnen gezwun gen, auf die Ladefläche eines Lastwagens zu steigen. Lu See war aus dem Haus gestürzt, um dagegen zu protestieren, hatte aber schnell erkennen müssen, dass das völlig zweck los war. Die Japaner hatten, um jede Gegenwehr schon im Keim zu ersticken, ihre Bajonette auf die Gewehre aufgepflanzt. Auf der Ladefläche des Lastwagens hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits achtzehn bis zwanzig Mädchen, starr vor Angst, zusammengedrängt. Einige hatten blutige Nasen oder aufgeplatzte Lippen gehabt. Die Soldaten hätten auch Lu See ergriffen, wenn nicht in ebendiesem Moment Oberst Tozawa vor dem Haus eingetroffen wäre.
Der Oberst hatte, auf dem Sitz seines offenen Panzerspähwagens stehend, unmissverständlich klargestellt, dass nur drei Mädchen pro Dorf mitgenommen würden.
»Feldwebel, ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt. Halten Sie Ihre Männer unter Kontrolle. Bei einer Missach tung dieses Befehls werden sich die Schuldigen vor mir persönlich zu verantworten haben. Drei pro Dorf, nicht mehr, nicht weniger. Die Disziplin muss in jedem Fall gewahrt werden!«
»Mama, sie nehmen Ah Ling mit!«, hatte Mabel geschluchzt.
»Ich weiß«, hatte Lu See erwidert, während sie versucht hatte, das Jammern der Mädchen auszublenden. Sie hatte mit weißem Gesicht dagestanden, hatte die Hände auf Mabels Schultern gelegt und sie mit ihrem Körper abgeschirmt. »Sieh zu Boden, Mabel, sieh zu Boden. Schau weg«, hatte sie gesagt und dabei versucht, nicht hysterisch zu klingen.
Von diesem Tag an bis zum Ende des Krieges waren sowohl Mabel als auch Lu See jedes Mal zusammengezuckt, wenn sie den Motor eines Lastwagens hörten.
Ah Ling war ihr Küchenmädchen gewesen, ein junges, fröhliches Ding vom Lande. Dreiundzwanzig Jahre alt. Lu See sollte sie nie wieder sehen.
Jetzt, da Tamarind Hill wieder in ihrem Besitz war, arbeitete Lu See von früh bis spät. Sie pflügte das Land, grub die verwelkten Stängel Zitronengras und die letzten Zwiebeln aus der Erde und säte dann leicht zu kultivierende Feldfrüchte wie Tapioca und Süßkartoffeln. Stück um Stück brachte sie das Haus wieder in Ordnung. Sie lüftete die Zimmer, fegte die Scherben zusammen, säuberte die Schlafzimmer, bezog die Betten frisch, stellte Rattenfallen auf und verbarrikadierte die eingeschlagenen Fenster mit Brettern. Immer wieder brachte sie auch von der Schutthalde des Dorfes einzelne Gegenstände mit, die die Plünderer dort entsorgt hatten, Dinge wie eine Schneiderpuppe, alte Schirme und Gehstöcke. Einmal fand sie sogar eine, wenn auch ziemlich ramponierte, Nähmaschine. Sie hoffte, all das vielleicht eines Tages gegen Lebensmittel eintauschen zu können. Wenn die japanischen Besatzer sie eines gelehrt hatten, dann sparsam zu sein.
Peter und James nutzten inzwischen ihre handwerklichen Fähigkeiten, um die beschädigten Bodendielen und die Türgriffe zu ersetzen. Im Garten stellten sie eine Schaukel auf, die sie aus einem alten Autoreifen gefertigt hatten. Ihre Mutter nähte Kleider aus alten Vorhängen und schnitt Sandalen aus kaputten Gummireifen zu. Die Kleider, die sie für Mabel nähte, verzierte sie oft sogar mit Falten, die aussahen wie eine Jalousie.
Es waren lange und anstrengende Tage. Abends, wenn die Sonne unterging, nahm Lu See Adrians alte Armbanduhr ab und ließ sich erschöpft in einen Sessel fallen. Die Uhr war nach wie vor defekt, aber Lu See brachte es einfach nicht über sich, sie in eine Schublade zu legen – noch nicht. Es war, als wäre Adrian noch immer bei ihr, solange sie die Uhr in der Nähe ihres Pulses trug.
Während der kurzen Momente, wenn Lu See die Armbanduhr abgelegt hatte, rieb Mabel die rauen Hände ihrer Mutter mit Palmöl ein, um die Schwielen zu glätten und
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