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Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Lees
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dass ich meine beste Freundin im Stich gelassen habe.«
    Selbst jetzt, nach all dieser Zeit, brachte sie das noch immer aus dem Gleichgewicht. Sie hatte das Gefühl, von einem sich drehenden Karussell abzusteigen.
    »Und seitdem hattet ihr keinerlei Kontakt mehr?«
    Sie schüttelte den Kopf und spürte, dass ihr Gesicht zu glühen begann. »Nein.«
    Sie versuchte zu lächeln, versuchte so zu tun, als wurde ihr das nichts ausmachen, aber das gelang ihr nicht. Das Schuldgefühl drückte sie nieder wie der Regen das hohe Gras.
    Sie hatte England verlassen und war nach Malaysia geflohen, hatte das Ticket für die Schiffspassage und das Geld an sich genommen, das noch immer in dem roten ang-pow- Päckchen von Onkel Hängebacke gewesen war. Sie hatte Lu See gegenüber mit keiner Silbe erwähnt, dass sie nach Lhasa zurückkehren wollte. Eines Morgens war sie in aller Frühe aufgestanden, hatte ihr Baby gefüttert und ihre Sachen gepackt, und dann hatte sie einfach das Haus verlassen. In Felixstowe war sie an Bord eines Schiffes gegangen, das sie nach Penang gebracht hatte. Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen gehabt hatte, war sie sich wie eine Verräterin vorgekommen.
    In Malaysia angekommen hatte sie nicht mehr genügend Geld gehabt, um nach Tibet weiterzureisen. Also hatte sie unter freiem Himmel geschlafen. Sie hatte als Aushilfe eines Straßenhändlers gearbeitet, wo sie Zuckerrohr zerstoßen hatte, um den Saft zu gewinnen. Sie hatte nicht ein einziges Mal versucht, Verbindung mit irgendeinem Mitglied der Familie Teoh aufzunehmen, um Hilfe zu erbitten. Schließlich hatte sie genug Geld zusammengespart, um nach Chittagong weiterreisen zu können. Sie hatte dazu ein langsames Boot von der Malakkastraße zum Golf von Bengalen genommen. Vierzehn Tage später war sie in Lhasa angekommen.
    Seitdem hatten die brennenden Schuldgefühle sie nicht mehr losgelassen. Und dennoch war sie tief in ihrem Inneren davon überzeugt, dass das, was sie getan hatte, richtig gewesen war. Ihr Opfer war unerlässlich gewesen.
    Fünf Tage nach der Himmelsbestattung ihrer Mutter ging Sum Sum zum Dorf der wolkigen Wipfel, legte ihre Zehenringe ab, die Zeichen ihres Stammes waren, und trat in das Nonnenkloster von Ani Trangkhung ein. Sie tat dies nicht, weil sie plötzlich tiefreligiös geworden war; nein, sie tat es, weil sie nicht wusste, wo sie sonst hätte hingehen sollen. Mit ihren achtundzwanzig Jahren war sie bei Weitem die älteste der Novizinnen.
    Um die sechsunddreißig Novizen-Eide auswendig zu lernen, legte sie den quadratischen Teppich, den nur Novizen benutzen durften, aus und ließ sich langsam auf ein Knie nieder. Überall um sie herum murmelten junge Frauen in ihre Klangschalen hinein, strichen in kreisenden Bewegungen über deren Rand, um einen melodischen Ton zu erzeugen.
    Kniend, die Handflächen unter dem Kinn aneinandergelegt, den Blick fest auf eine tropfende rote Kerze gerichtet lauschte Sum Sum der Stimme der Vorsteherin des Tempels, die durch den Weihrauch an ihr Ohr drang.
    »Bist du bereit, Zuflucht unter der Führung und dem Schutz von Buddha, Dharma und Sangha zu nehmen?«, fragte die alte Nonne.
    »Ich bin bereit«, erwidert Sum Sum leise.
    »Bist du bereit, allen weltlichen Beziehungen und Besitztümer zu entsagen?«
    Im Hintergrund schlug die vajra leise eine Glocke. Sum Sum schloss die Augen, ließ ihren Geist leer werden und stellte sich dann einen Schirm aus weißem Licht vor, der die Klosteranlage umfing.
    »Ja.«
    Die Vorsteherin des Tempels legte ihren Daumen auf Sum Sums Kopf und übte einen leichten Druck aus. Sum Sum hörte ein erstes schnipp . Dann spürte sie, wie ihre dichten Haare glatt gezogen wurden, sodass sich ihr Kopf ein wenig zur Seite neigte. Ein mahlendes Geräusch ertönte in ihren Ohren, als die langen schrägen Klingen der Schere dicke Haarsträhnen abschnitten.
    Ihre Haare kitzelten auf ihren Armen, als sie zu Boden fielen. Sum Sum hätte nur allzu gern die Hand gehoben, um sich mit ihren Fingern über den Kopf zu fahren und zu ertasten, was da gerade geschah, aber ihre Handflächen verharrten aneinandergelegt unter ihrem Kinn.
    Die metallenen Kiefer schnitten und schnitten, entfernten ein Büschel nach dem anderen.
    »Was macht ihr eigentlich mit den ganzen Haaren, lah ?«, flüsterte Sum Sum.
    »Psssst!«
    »In England kaufen sie Haar wie meines, um Perücken daraus zu machen. Ihr solltet das auch tun. Fegt die Haare zusammen und schickt sie einem Perückenmacher. Das Geld

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