Das Haus der tausend Blueten
Mann mit den Haaren wie ein Stachelschwein, weißt du doch? Er ist gestorben, weil er zu viel Zucker gegessen hat. Sein Herz hat das nicht verkraftet. Salz ist auch sehr schlecht – denk dran, was mit den Knöcheln deines Ah-Bas geschehen ist.«
Gesprenkeltes Sonnenlicht fiel durch die grauen Fenster. Onkel Hängebacke fächelte sich mit einem Bananenblatt Luft zu, zuckte plötzlich zusammen und begann dann, sich über seine arthritischen Knie zu beklagen. Die Wände verströmten einen feuchten Geruch.
»Hier ist nicht mehr viel zu retten, hm?«
»Sie haben alles mitgenommen. Sogar die Türgriffe«, sagte Lu See. Ihre Stimme hallte in der Leere wider.
»Nicht ganz«, antwortete Onkel Hängebacke mit dröhnender Stimme. »Ich habe eine Kiste mit den alten englischen Büchern deines Vaters gefunden.«
»Die Enzyklopädien?« Als kleines Mädchen hatte sie oft auf den Knien ihres Ah-Ba gesessen, während er ihr aus der Encyclopaedia Britannica vorgelesen hatte. »Ist die Ausgabe von The Household Physician dabei?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Er nickte. »Ich habe auch die alten Familienporträts in einem der hinteren Zimmer gefunden, ah.«
»Du meinst doch nicht etwa die Porträts von Großtante Ying?« Lu See schnitt eine Grimasse und machte dabei ein Gesicht wie eine alte Hexe.
Onkel Hängebacke begann zu wiehern. »Frankensteins Braut wie sie leibt und lebt!«
»Die Japsen müssen sich zu Tode erschrocken haben, als sie sie das erste Mal gesehen haben. Sie sieht ungefähr so gut aus wie ein Korb voller Krabben.«
» Aiyoo! Beleidige doch nicht die Krabben.«
Sie lachten und klatschten in die Hände.
»Und erst die armen Plünderer! Kannst du dir vorstellen, was sie gedacht haben müssen, als sie hier mitten in der Nacht eingebrochen sind und dann von diesen Glupschaugen böse angestarrt wurden?«
»Sie haben sich bestimmt in ihre Sarongs gepinkelt.«
»Und wurden auf der Stelle in Stein verwandelt.« Onkel Hängebackes schallendes Gelächter klang volltönend und rollend.
Und als sie da standen und sich alle vor Lachen bogen, zog sich die Düsternis wenigstens einen Moment lang zurück.
Lu See hatte sich in den letzten drei Jahren jeden Tag gezwungen, unerschütterlichen Gleichmut zu zeigen. Sie hatte ihren Verstand vor den Geschichten von Verhaftungen durch die Kempeitai, den Berichten über Razzien und spurlos verschwundene Freunde verschlossen. Stattdessen hatte sie alles versucht, um den Alltag ihrer Familie so normal wie möglich zu gestalten. Sie hatte dafür gesorgt, dass kein Geburtstag, kein Klößchenfest und kein chinesisches Neujahrsessen vergessen wurde, selbst wenn der Mangel an Zucker und Eiern die Kuchen weniger süß und die Klößchen weniger saftig hatte werden lassen.
»Du hast bald Geburtstag«, sagte sie jetzt und wuschelte ihrer Tochter dabei durch die Haare. »Vielleicht gelingt es uns ja, das Haus bis dahin wieder herzurichten.«
»Wann ist eigentlich dein Geburtstag, Mama? Du sagst nie etwas, und wir feiern auch nie.«
»Ich sage nichts, weil ich nicht gern daran erinnert werde.«
»Warum?«
»Weil es eben so ist!« Lu See war angesichts ihres scharfen Tons selbst erschrocken. Sie versuchte das Bild von Adrian, der das Dach der King’s Chapel hinaufkletterte, in einen der hintersten Winkel ihres Gedächtnisses zu verbannen. »Es tut mir leid, Kleines. Ich wollte dich nicht anschreien.«
»Ist schon okay, Mama.«
Lu See sah Mabel an und lächelte. Als diese ihr Lächeln erwiderte, war sie erleichtert. Lu See nannte ihre Tochter oft »meine tapfere kleine pendekar -Kriegerin«. Sie hatte alles Menschenmögliche getan, um sie vor dem Grauen des Krieges, das die Japaner mit sich gebracht hatten, zu beschützen.
»Kinder haben erst dann Respekt vor einem Dornenbusch, wenn sie einmal in einem hängen geblieben sind«, hatte sie auf dem Höhepunkt der Schreckensherrschaft einmal zu Onkel Hängebacke gesagt. »Solange es mir gelingt, Mabel von alledem fernzuhalten, wird es ihr gut gehen.«
»Aber sie hat doch Augen im Kopf. Du kannst die Hässlichkeit des Krieges nicht vor ihr verbergen. Wenn zwei Büffel kämpfen, dann wird nun einmal auch das Gras zertrampelt, eh!«
Ihre Tochter war jetzt fast neun Jahre alt. Lu See hatte sie während des Krieges nur ein einziges Mal weinen sehen. Es war nicht der Tag gewesen, als ihr Großvater gestorben war, es war der Tag gewesen, an dem man sie aus ihrem Zuhause vertrieben hatte, der Tag, an dem Mabels Kindheit abrupt geendet
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