Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
Vom Netzwerk:
schlafe schlecht. Ich muss ständig an meine Kinder denken. Was geht in Lhasa wohl vor?«
    »Unerfreuliches.«
    Er hielt einen Feldstecher in der Hand, den er ihr reichte. Sie drehte die Gläser und stellte sie auf ihre Sehschärfe ein. Die fernen Bilder rückten näher. Sie erkannte die Umrisse der beiden Klosterburgen Drepung und Tschagpori, wo sich einst ihr Vater zum Arzt hatte ausbilden lassen. Dahinter war ein Leuchten, ein brennender Busch, über dem hellere Strahlen verblassten. Das Feuer schien sich auf geheimnisvolle Weise zu entfachen, wie ein Brand, der aus dem Nichts hervorbrach und schwelte. Im Innern des Feuers züngelten die Farben greller, wobei die Helligkeit gelegentlich wuchs oder abnahm.
    »Sie zerstören die Stadt«, hörte sie Kanam sagen. »Sie gehen dabei methodisch vor.«
    Sie gab ihm den Feldstecher zurück.
    »Ich frage mich, ob mein Haus noch steht.«
    »Sind deine Kinder in dem Haus?«
    »Ich weiß es nicht. Ich habe sie in der Obhut unserer chinesischen Freunde gelassen.«
    Er grinste ohne Heiterkeit.

    »Die Jungkommunisten machen da keinen Unterschied.«
    Longselas Herz setzte für einen Schlag aus.
    »Was willst du damit sagen?«
    »Nun, die Volksarmee unternimmt das, was sie die ›große Säuberung‹ nennt. Was heißen will, dass es Beamten, die nicht genug Staatstreue zeigen, an den Kragen geht.«
    »Aber weshalb nur? Weshalb?«
    Er zog die Schultern hoch.
    »Revolutionseifer. Machtkämpfe innerhalb der Partei. Die übliche Hackordnung.«
    Longsela knetete ihre eiskalten Hände.
    »Dann sind meine Kinder wohl bei der Großmutter. Oder vielleicht bei den Dienstboten?«
    Sein Schweigen schloss sich über der gestellten Frage. Longsela sah, wie sich sein Gesicht leicht in die Dunkelheit zurückzog.
    »Kanam«, sagte sie, »ich will meine Kinder aus Lhasa herausbringen.«
    »Das könnte schwierig sein«, meinte er.
    »Unmöglich?«
    »Nichts ist unmöglich.«
    »Wir könnten zunächst nach Shigatse gehen, zu den Schwiegereltern.«
    »Zweifellos wäre das vorzuziehen. In Shigatse ist es noch ruhig. Obschon sich die Lage täglich ändern kann.«
    Sie hob die Hände an die Kette im Ausschnitt ihrer Tschuba.
    »Dzi-Steine erfüllen Wünsche, hat mir Tesla gesagt.«
    Kanam sah auf ihre nackte Haut und dann auf die Kette, die im schwachen Flammenlicht bernsteinfarben leuchtete.
    »Sie ist kürzer als in meiner Erinnerung«, sagte er.
    »Ich teilte sie mit Sonam, meiner jüngsten Tochter, bevor ich sie verließ.«
    »Brachtest du ihr die Zauberworte bei?«
    Longselas Hände sanken wieder vom Hals herab.

    »Sie kennt sie auswendig.«
    »Dann solltest du nicht verzweifeln«, sagte Kanam. »Wir wissen nicht, auf welchen Wegen die Kette in unsere Familie kam. Da steckt eine Geschichte dahinter, die keiner kennt. Tesla gab sie dir aus Dankbarkeit. Dein Vater heilte Alo, der jetzt ein Mann ist und ein Kämpfer, auf den ich stolz sein kann.«
    »Und Tesla? Wann ist sie gestorben.«
    »Vor mehr als zehn Jahren. Das Herz.«
    »Und seitdem?«
    »Diese oder jene Frau. Leg deinen Kopf an meine Schulter.« Er saß, den Rücken gegen einen Stein gelehnt, und sie legte sich in die Beuge seines Arms. Sie fühlte ihren Körper, der schmerzte, als sei sie geprügelt worden, weich und entspannt werden. Nach einer Weile brach sie das Schweigen.
    »Meinst du, die Steine helfen auch Sonam?«
    »Wenn sie daran glaubt.«
    Longsela spürte durch die Kleider die Resonanz seiner Stimme. Sie rief in ihrem Innern ein Echo hervor, als ob er in ihrem Körper sprach.
    »Sonam glaubt daran«, sagte sie.
    Er drückte sie fester an sich. Longsela versteifte sich, doch sie rückte nicht von ihm ab.
    »Wenn sie sich diesen Glauben bewahrt«, sagte er, »sind die Steine sehr mächtig«.
    Die Zeit schlich auf Zehenspitzen vorbei. Der Wind brachte das Schweigen der Hochsteppe, flüsterte in den Büschen Geheimnisse und Beschwörungen. Die Luft war von Sternennebel erfüllt und gleichsam klar. Über dem Lichtstrom am Horizont war die Mondsichel aufgegangen, scharf und glänzend. Longsela blickte auf Kanams Hand, die wie ein dunkelbrauner Fleck auf dem Feldstecher lag. Sie wollte nicht mehr durch die Gläser schauen, die ihr die Wirklichkeit allzu nahe brachten. Lhasa, dies geliebte Stück Welt, war zerstört, Menschen wurden
zu Tode gequält, alles war geraubt worden, es fehlte am Nötigsten. Hatte es überhaupt noch einen Sinn, übrig zu bleiben? Was konnte den Schmerz in ihr lindern, wenn nicht die Wärme dieses Mannes?
    »Es

Weitere Kostenlose Bücher