Das Haus der Tibeterin
kommt oft vor«, seufzte sie, »dass ich nicht schlafen kann.«
»Schlafe!«, sagte er kehlig. »Ich bitte dich.«
Er breitete seinen Umhang über ihr aus. Als er das getan hatte, sank Longsela augenblicklich in einen Schlummer. Ihr Kopf sank auf ihre Brust und blieb dort reglos. Der Mond wanderte empor, der Wind strich über schlafende Männer und Pferde. Eine neue, tiefere Stille stellte sich ein: die Stille vor dem Erwachen des Tages. Dann plötzlich schwirrte ein Vogel auf, glitt durch die Luft und verschwand in einem Busch. Longsela schreckte hoch.
»Denke nicht, dass ich schlafe. Ich habe nur kurz die Augen zugemacht.«
Er zeigte ein Lächeln, eine Andeutung nur. Er hielt sie fest, als ob er sich davor fürchtete, sie loszulassen.
»Dann höre jetzt gut zu. Bald trennen sich unsere Wege. Eine Eskorte kann ich dir nicht anbieten. Meine Männer würden das nicht verstehen. Sie wollen kämpfen.«
»Ich komme schon zurecht.«
»Ich werde Yeshe ein Gewehr geben.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Er kann nicht damit umgehen.«
Kanam holte eine Pistole unter seinem Umhang hervor und legte sie Longsela in die Hand.
»Zum Schutz der Kinder«, sagte er.
Sie machte eine Anstrengung, ergriff ungeschickt die Waffe. Sie war größer und schwerer als jene, die Telsen damals getragen hatte. Longsela konnte sie kaum heben.
»Ich werde dir Munition geben«, sagte Kanam.
Sie schüttelte wortlos den Kopf.
»Es geht leichter als du denkst«, sagte er. »Selbst wenn du glaubst, es sei nicht möglich - du gewöhnst dich daran.«
Sie antwortete tonlos: »Einmal, da war ich nahe daran, es zu tun. Du weißt, dass ich es nicht konnte.«
Ihm lag ein Fluch auf der Zunge, den er unterdrückte.
»Die Religion ist ganz freundlich und brauchbar, solange sie keine Schafe aus uns macht. Also gut, gib Yeshe die Waffe! Nur für den Notfall, ja?«
Sie machte ein zustimmendes Zeichen.
»Das werde ich tun. Ich danke dir, Kanam.«
»Und noch etwas. Solltest du Hilfe brauchen, frage an der Ramagang-Fähre nach Tashi. Er ist mein Cousin. Man wird dir sein Haus zeigen. Wir haben dort unser Hauptquartier.«
Er hörte auf zu sprechen, versteifte sich, lauschte. Ein dumpfes Brummen schien aus den Tiefen der Erde zu wachsen. Er aber wusste, dass es von weither kam, dass es die Luftmassen waren, die das Echo an seine Ohren trugen. Auch die Rebellen hörten es im Schlaf. Gewöhnliche Geräusche weckten sie nicht, nur die ungewöhnlichen. Sie stießen ihre Decken zurück, glitten ohne Übergang vom Schlaf ins Wachsein, die Blicke argwöhnisch, die Muskeln gespannt und die Waffen schon in Greifnähe.
»Was ist los?«, fragte Longsela.
»Sie bombardieren Lhasa«, antwortete Kanam. »Immer vor Tagesanbruch.«
Er war mit einer gleitenden Bewegung auf den Beinen.
»Es wird Zeit. Die Pferde sind auch schon wach.«
Sie blieb sitzen, wo sie war, und hielt die Pistole in ihrem Schoß.
»Es ist möglich«, sagte sie wie zu sich selbst, »dass wir sterben werden, ohne uns wiedergesehen zu haben.«
Er machte einige Schritte von ihr weg, rollte sich eine Zigarette. Er blickte dabei anderswohin, mit abwesendem, fast zornigem Ausdruck. Sie glaubte, dass er sie nicht mehr gehört
hatte. Er zündete die Zigarette an, das Streichholz mit dem Kelch seiner Hände umschließend und die kleine Flamme schützend, die kurz sein kantiges Gesicht beleuchtete. Danach warf er das Streichholz in den Sand, drehte sich zu ihr um und sagte: »Es sei denn, dass du nach Ramagang kommst. Und ich dann noch am Leben bin.«
SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL
L ongsela hatte geglaubt zu wissen, wie es daheim aussah. Sie schöpfte dieses Wissen aus verschiedenen Quellen. Aber sie trug alte Bilder in sich, und im Dahinflug der Zeit schien Lhasa beständig. Umso schwieriger war es für sie, das Ausmaß des Unglücks zunächst einmal zu ermessen, ihm ins Antlitz zu sehen. Der Geist ernährt sich von Gewohnheiten, Erinnerungen und Erfahrungen. Verluste, Raub und Zerstörungen sollten den Geist vernichten. Der leibliche Tod würde folgen.
Wie viele Menschen starben? Wie viele wurden auf der Flucht von chinesischen Maschinen im Tiefflug erschossen? Wie viele mussten, in Reihen aufgestellt, ihr eigenes Massengrab schaufeln, bevor ein Kopfschuss ihr Leben beendete? Und wie hätte die Volksarmee beweisen können, dass die vielen tausend Toten der hassenswerten Oberklasse angehörten? Wie sollte eine Ideologie, auf dem Nullpunkt ihrer moralischen Werte angekommen, die Verbrechen
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