Das Haus der Tibeterin
Longselas Mund sammelte sich bittere Spucke an.
»Warum … warum tun sie das?«
»Als Vergeltung, als Belustigung für die Soldaten und auch zur Einschüchterung. Es gibt ein chinesisches Sprichwort: Willst du Affen abschrecken, schlachte Hühner. Gemeint ist damit, dass die Affen durch den Anblick kopflos herumflatternder Hühner die Flucht ergreifen.«
Longsela erschauerte, und Kanam sagte: »Huang Weichi war einer dieser Männer. Und wir hatten in Erfahrung gebracht, dass er mit dieser Maschine kommen würde.«
»Du kanntest ihn also?«
Er stieß den Rauch durch die Nase.
»Nein. Wahrscheinlich hatte ich Glück.«
Longsela spürte das Grauen in ihm, das hervorquoll wie dunkler Frost, durch das Ungesagte, durch die Blicke.
»Ich verstehe«, sagte sie leise.
Er bewegte weich den Kopf.
»Ich fürchte, nicht ganz.«
Sie rauchte. Kanam sah, dass ihre Hände zitterten. Er sprach so ruhig, als hätte er es nicht bemerkt.
»Ich war es, der den Befehl gab, die Maschine zu zerstören.«
Das Geständnis erschlug sie, schloss ihr die Augen. Er wartete, bis Longsela endlich aus ihrer Erstarrung erwachte.
»Und die Passagiere? Du hast sie umgebracht, Kanam. Du hast meinen Mann umgebracht!«
Sie hatte die Stimme erhoben. Sein Gesicht war hart wie Granit. Doch in seinen Augenwinkeln schimmerte etwas, das sie nie geglaubt hatte dort zu sehen. Er antwortete ruhig, immer noch ruhig.
»Es war gegen mein Herz, aber es musste getan werden. Vielleicht wirst du mir vergeben. Und vielleicht vergibt es mir der barmherzige Buddha. Wenn nicht, dann nicht. Ich kann dir nichts anderes sagen als dies.«
»Du hast mir gar nichts zu erklären.«
»Doch. Huang Weichi hatte mehr als tausend Gefangene zu Tode gefoltert, selbst kleine Kinder vor den Augen der Mütter. Willst du mehr Einzelheiten hören?«
Sie hielt sich die Ohren zu, schüttelte heftig den Kopf. Ihre Haut war aschfahl, ihre Hände zitterten wie die einer alten Frau. Kanam sprach weiter.
»Huang Weichi kam nach Lhasa, wo neue Verhöre auf ihn
warteten. Wir wussten, wann die Maschine landen würde und aus welcher Richtung sie kam. Wir hatten eine Abschussvorrichtung in den Felsen verborgen. Das dritte Geschoss traf.«
Longsela stellte es sich vor: das gellende Pfeifen, der Knall, die Flammen, der Rauch.
»Das Flugzeug explodierte und stürzte in einem Wald ab. Wir kamen etwas später und suchten in den Trümmern. Der Wald brannte noch. Es gab keine Überlebenden.«
Die Sonne war ein roter Schein hinter den Bergen. Über das Hochtal breitete sich Dunkelheit aus. Longsela spürte kaum ihren Schmerz. Kanam saß neben ihr, in seinen schwarzen Mantel gehüllt wie ein Schatten. Er hatte nur gesagt, was gesagt werden musste. Sie wünschte auch nicht, mehr zu hören. Sie hatte verstanden. Wie zu sich selbst sagte sie: »Hätte ich das Flugzeug genommen, wäre nichts geschehen. Ich … ich hätte die Wahrscheinlichkeit verändert.«
Er runzelte die Stirn.
»Was meinst du damit? Ich kann dir nicht folgen.«
Longsela nahm noch einen Zug von ihrer Zigarette und hustete. Sie wartete lange, ehe sie zu sprechen anfing. Sie war wieder ruhig geworden, erzählte von der Weissagung des Astrologen.
»Es ist sehr seltsam, wenn man es bedenkt, aber wir taten alle Dinge gemeinsam. Wir trennten uns nie. Bis auf dieses einzige Mal. Der chinesische Kommandant kam im letzten Augenblick mit zwei Offizieren. Die Maschine war ausgebucht. Zwei Passagiere verzichteten auf den Flug. Paldor hatte Angst um mich. Er wollte nicht, dass ich in das Flugzeug stieg. Ich überließ Huang Weichi meinen Platz. Ich wusste, dass ich gar nichts mehr ändern konnte.«
Sie presste die Fäuste zusammen, zwang sich zur Ruhe.
»Und unterschrieb auf diese Weise Paldors Todesurteil.«
Er sagte tonlos: »Und ich setzte ein Siegel unter dieses Urteil.«
Sie straffte die Schultern. Ihr Kopf schwang bestürzt empor.
»Du verstehst es?«
»Ich könnte gar nicht anders.«
»Ich werde mich über seinen Tod nie hinwegtrösten lassen.«
Er sah auf seine glimmende Zigarette.
»Ich auch nicht. Die Bürde unserer Schuld haben wir gemeinsam zu tragen.«
Er erkannte das mit ruhiger, vernunftgeleiteter Seele. Sie begriff es auch und nahm es hin. Es war, als ob ein großer Riss durch ihr Leben ging, wie eine Wunde, die blutend aufgeplatzt war. Und an Kanams sanften Worten erkannte sie, welch unendliche Hilfe sie von ihm erbeten und erhalten hatte. Sie sagte zu ihm: »Jetzt weißt du, warum ich mit dir reiten
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