Das Haus der Tibeterin
rechtfertigen, die im Namen der Befreiung begangen wurden? Die Tibeter mussten sterben, einfach weil sie anders dachten. Und weil das mächtige China jetzt Tibet, die »Schatzkammer des Ostens«, brauchte, um noch mächtiger zu werden, seine Grenzen zu festigen und sich gegen seinen gewaltigen Nachbarn Indien zu behaupten. Dabei berief sich China unermüdlich auf die Revolution, weil die Revolution alles rechtfertigte. Die Revolution war eine geistige Haltung wie der Glaube an Gott.
Dachte Longsela darüber nach, kam sie in die Versuchung
zu meinen, dass im Mit-Untergehen Treue und Standhaftigkeit lagen. Bis ihr klar wurde, dass damit der Wille der zerstörenden Macht ja gerade erfüllt wurde. Der Lebenswille verlangte, dass sie fest an dem hing, was war, und nicht an dem, was kommen sollte.
Kanonenschüsse hatten den Potala getroffen; was noch stand, sah ganz anders aus und fremd. Das schöne Kundeling-Kloster brannte, die wuchtigen alten Häuser lagen in Trümmern. Longsela und Yeshe irrten durch die einst so vertrauten Straßen wie durch einen gespenstischen Traum. Longsela ging auf schwankenden Beinen. Sie hätte im Sattel eine zu deutliche Zielscheibe geboten. Yeshe führte die Maultiere am Zügel. Nur wenige Menschen waren unterwegs, die meisten, erschöpft und zerlumpt, suchten unter Mauervorsprüngen Schutz vor der Kälte. Manche lagerten um kleine Feuer, andere hatten sich aus Fell und Decken notdürftige Zelte gebaut. Im Schutt verwesten Leichen; Mönche und Nonnen waren an ihren Roben zu erkennen. Longsela bewegte sich an den Mauern entlang, mied die Mitte der Straße. Ihre Augen spielten ihr manchmal Streiche, sie sah die Dinge doppelt oder verschwommen. Ihre Muskeln fühlten sich an, als würden sie sich von Sehnen und Knochen ablösen. Durch die bleierne Erschöpfung sickerte allmählich der Gedanke durch, dass das Haus der Weiden mittlerweile ein Trümmerhaufen war, an dem sie achtlos vorbeigegangen waren. Doch auf einmal streckte Yeshe den Arm aus.
»Wir sind gleich da.«
Der Mond war hinter dem Tschagpori aufgegangen, bleich und ebenmäßig wie das Profil einer Frau, von Wolkenschleiern umgeben. Longsela rief sich in Erinnerung, was für eine Straße da lief, denn sie war da unzählige Male gegangen. Sie beschleunigte ihre Schritte, bis der Mond schräg das große, eisenbeschlagene Tor beschien. Die Flügel standen halb offen, warfen lange Schatten auf Steine und Schutt. Mit wild pochendem Herzen trat Longsela in den Innenhof, wich lockeren
Steinen und Geröllhaufen aus. Jetzt stand sie vor dem Haus und schaute hinauf, aber die Tränen kamen ihr nicht. Ihr Herz blutete auch nicht, denn es war längst zu Eis geworden. Das Haus ragte empor, knochenweiß im Mondlicht. Der alte Turm war eingestürzt, eine Seite der Mauer lag am Boden. Doch ein ganzes Fassadenteil samt den Balkonen war erhalten geblieben, Stein auf Stein, nur die Scheiben waren eingeschlagen, und aus den Fenstern starrten die schwarzen Augen der Leere. Und jetzt meinte Longsela auf einmal, sie sei wahnsinnig geworden, denn in der Luft unter den Bäumen hing ein schwacher Duft nach Aprikosen. Longsela, die stets geglaubt hatte, Erinnerungen seien geruchlos, spürte ein Würgen in der Kehle. Sie lief an den Stallungen vorbei, hörte dort leise raschelnde Geräusche, beachtete sie nicht, stolperte die Stufen empor, der Tür entgegen, die nur angelehnt war und sich laut knarrend vor ihr öffnete. Schon war Yeshe neben ihr. Longsela bemerkte die Waffe in seiner Hand, bevor sie im Mondlicht sah, dass es in dem Haus nichts mehr gab. Nur verlassene Räume, nur Geröll, Staub, Schmutz und Uringestank. Die geschnitzten Tische aus Lack- und Walnussholz, die schönen Kommoden, die kostbaren Rollbilder, die Teppiche in Edelsteinfarben - weg waren sie, als hätte es sie nie gegeben. Auch der vergoldete Hausaltar, der viele hundert Jahre alt war, das segenspendende Seidenbild der Palden Lhamo, der juwelengeschmückte, bronzene Buddha. Fort, alles fort, und in den Wänden klafften Löcher. Die Seidentapete schälte sich wie feuchte Baumrinde von der Wand, die Samtvorhänge hingen in Fetzen, und man hatte sogar die Sitzbänke abmontiert. Vorsichtig und verzweifelt gingen Longsela und Yeshe die zerbröckelten Stufen empor. Ihre Füße verfingen sich in Mattengeflecht. Ein Kronleuchter war auf den Boden gestürzt und zerschellt. Unter Longselas Stiefeln knirschte Glas. Sie ging einen Treppenabsatz höher, eine leere Zimmerflucht entlang, stieß die Tür
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