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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Welt ein, die die Welt der Geister war. Vorwärts ging’s, immer nur vorwärts. Keiner konnte hier kehrtmachen: Es war einfach kein Platz da, dass ein Pferd sich hätte drehen können. Endlich sah Longsela in weiter Ferne eine Öffnung, durch die das Licht fiel. Dahinter war die Luft in seltsamer, wellenartiger Bewegung. Und als sie endlich aus der Dunkelheit ritten, sah Longsela ein unglaubliches Bild. Vor ihr ragte die Nordwand in die Höhe, und von hoch oben stürzte ein Wasserfall schäumend und gurgelnd in die Tiefe. Longselas Gefährten zeigten wenig Uberraschung; sie kannten ja den Weg. Doch Longsela fühlte sich von diesem Anblick gebannt und verzaubert. Mineralische Beimischungen verliehen dem Wasser eine grüne Kupfersulfatfarbe, als ob Millionen von Türkisen sich hier verflüssigten. Trotz der eisigen Kälte empfand Longsela ein frohes Gefühl, als sie in diesem Türkisglanz badete. Das Wasser roch nach Gletscher, nach Grüften, in denen die Knochen der Ahnen ruhten. Doch Longsela war ohne Angst. Der Tod? Nun, gestorben war sie ja bereits, mit dem abstürzenden Flugzeug. Ihrem zweiten Tod sah sie gelassen entgegen.
    Die Khampa sagten, dass die gewaltige Wassermenge in den Wintermonaten fror. Jetzt war der Weg noch gangbar; die Pferde bewegten sich sehr vorsichtig, tasteten mit den Hufen den Boden ab. Auf diese Weise gingen sie, bis Gräser zwischen den Steinen wuchsen und die lehmige Erde den Pferden angenehmer war. Es wurde auch höchste Zeit: Schon glühte die Abendsonne. Auf einmal beschleunigten alle Pferde ihre Gangart, ja, selbst die Maultiere verfielen in leichten Trab. Longsela sah die Felsen zurückweichen, den Himmel breiter und heller werden. Sie ritten aus dem Schatten des Gebirges, und die Hochsteppe lag vor ihren Augen. Der Welt der Geister waren sie ohne Schaden entkommen, die Welt der Menschen tat sich vor ihnen auf, unerbittlicher und tausendmal gefährlicher. Denn in der Welt der Menschen herrschte Krieg. Das
dumpfe Dröhnen der Geschosse war hörbar, und Longsela sah vor sich am Horizont, im düster-flackernden Licht der Brände, das Ziel ihrer Reise: Lhasa.
     
    Später schlugen die Khampa unterhalb einer kleinen Anhöhe ihr Lager auf. Das Feuer brannte fast unsichtbar unter einem Vorsprung im Gestein. Das Klima Tibets war das heftigste Klima der Welt. Der Unterschied zwischen der Hitze des Tages und der Kälte der Nacht bedeutete für jedes Lebewesen aus Fleisch und Blut eine große Belastung. Männer und Reittiere waren erschöpft. Und doch hatten sich nach Art der Nomaden die Reiter zuerst um ihre Pferde gekümmert, sie abgerieben, sie mit Futter und Wasser versorgt. Die Khampa sorgten gut für ihre Pferde, besser sogar als für sich selbst. Denn ohne ihre Pferde waren die Nomaden keine richtigen Kämpfer mehr. Als die Soldaten der Volksarmee das begriffen, dezimierten sie später die Herden der Reiternomaden, erschossen die Pferde zu Tausenden, bis der Gestank des verwesenden Fleisches ganze Täler verpestete.
    Longsela aß und trank, was Yeshe ihr brachte. Sie wollte bei Kräften bleiben. Der Sand durchzog alles und stach auf ihre Haut, aber sie empfand ihn längst nicht als Schmutz, sondern als etwas, das zu ihr gehörte. Sie dämmerte zwischen Schlaf und Wachsein dahin, die Decke, in der sie lag, war vom Schweißgeruch ihres Maultiers getränkt. Augenblicke vor dem Einschlafen sind gefährlich. Das Bewusstsein möchte sich entfernen, sich irgendwo im Dunkeln auflösen, aber es gibt Bilder, die es zurückhalten. Nicht die wirklichen Dinge wurden in diesen Bildern gemalt, sondern das, was sie waren, oder nachdem sie es waren. Erinnerungen an Farben, an Musik, an ein Menschengesicht. Die Bilder hingen in der Schwebe, wie eine Brücke ohne Ufer, die die Erinnerung festhielt, während rundherum alles, was vorher gewesen war, im Nebel verblasste. An der Schwelle des Schlafes mühte sich Longsela ab, verflossene
Bilder in der Ferne zu suchen - geisterhaft. Das hielt sie wach. Mit solchen Bildern musste sie vorsichtig umgehen: Sie waren fremder und unheimlicher als Träume.
    Irgendwann spürte sie dann eine Bewegung neben sich und öffnete die Augen. Eine hohe Gestalt, schwarz verhüllt, ließ sich neben ihr nieder.
    »Es war ein langer Ritt«, sagte Kanam.
    Sie antwortete ruhig.
    »Ich fragte Yeshe: wie weit noch bis nach Lhasa? Drei Tage, sagte er. Aber wir sind ja schon bald da!«
    »Wir reiten schnell.«
    »Das habe ich auch gehofft.«
    »Du solltest schlafen«, meinte er.
    »Ich

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