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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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will.«
    Er sah sie an, mit einem tiefen, dunklen Blick, bevor er die Zigarette im Sand ausdrückte und sich erhob. Eine schnelle, elastische Bewegung. Sie erhob sich ebenfalls. Schweigend standen sie voreinander, ihr zu ihm emporgewandtes Antlitz reichte ihm kaum bis zur Brust. Dann neigte er den Kopf, sodass, für einen flüchtigen Augenblick nur, ihr Haar dicht unter seinen Lippen lag. Eine blasse Mondsichel wanderte über den Himmel. Der Sand roch salzig wie Tränen, und der Wind trug bereits den Geruch von Schnee.
    »Morgen bei Tagesanbruch«, sagte er. »Lass dich aber warnen: Es wird ein harter Ritt! Du wirst müde sein.«
    Longsela hob ihre Zigarette zum Mund, tat einen letzten Zug, bevor sie die glimmende Kippe in den Sand warf.
    »Wenn man so müde ist wie ich, dann, glaube ich, macht es nicht mehr viel aus, noch müder zu werden.«

FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
    D er Morgen erwachte, eiskalt, mit einem saphirblauen Schimmer. Die Pferde spürten die Unruhe des Aufbruchs, wieherten und tänzelten. Yeshe, der um keinen Preis von Longsela getrennt sein wollte, hatte beide Maultiere bereits gesattelt, das Zaumzug geflickt. Longsela verabschiedete sich von den Frauen und Männern, deren Los sie geteilt hatte. Sie schloss Ani Yudrön in ihre Arme, umklammerte sie, hielt sie so fest, wie sie konnte. Es würde nie fest genug sein für das, was sie ihr verdankte. Die Nonne streichelte ihr Haar, segnete sie und weinte mit ihr, wobei ihr jugendliches, unbefangenes Lächeln immer wieder durch die Tränen schimmerte.
    »Sei ruhig, meine Tochter! Ich bin alt und gehe bald zurück nach Hause, zu Buddha. Du aber hast noch eine Aufgabe vor dir! Sei tapfer und stark, wie du es immer warst!«
    Der Lastwagen wartete. Longsela half Ani Yudrön, unter die Plane zu steigen. Bald sprang der Motor an, und der Lastwagen rumpelte in einer Staubwolke davon. Während sich die Reiter auf den Weg machten, blieben einige Männer zurück und sprengten die Bunker. Longsela und ihre Gefährten, die vorausgeritten waren, hörten die Explosionen aus der Ferne. Als die zurückgebliebenen Kämpfer das Gros der Truppe eingeholt hatten, schlugen die Reiter ihren gewohnten schnellen Trab an. Die zähen Maultiere wollten sich von den Pferden nicht abhängen lassen und hielten gut Schritt mit ihnen. Die Khampa, über die Mähne ihrer Reittiere gebeugt, trieben sie mit Pfiffen und Koseworten an. Manchmal schwangen sie ihre
kurzen Reitgerten, doch ohne die Tiere zu berühren. Die Bewegung genügte, um die Pferde schneller traben zu lassen. Das Gebirge war eine Welt mit eigenen Gesetzen, von zahlreichen Pisten durchzogen. Eine jahrhundertealte Vertrautheit mit dem Gelände prägte die Erfahrung der Reiter. Sie gönnten sich und ihren Tieren nur kurze Verschnaufpausen. Dabei blieben Longsela und Yeshe etwas abseits, denn Maultiere und Pferde vertrugen sich nicht so gut. Es waren kluge und geschickte Tiere, diese Khampa-Pferde, klein und robust, dick behaart und mit struppiger Mähne, die Sonnenglut und Winterstürmen gewachsen waren. Höher im Gebirge verlangsamten die Tiere ihren Schritt. Die Reiter trieben sie auch nicht mehr an, sondern überließen es den Pferden, ihren eigenen Rhythmus zu finden. Blieben die Pferde stehen, um Atem zu holen, warteten die Reiter geduldig, bis sich die Tiere von selbst wieder in Bewegung setzten. Auf diese Weise schonten sie ihre Kräfte. So stiegen sie weiter, Absatz um Absatz. Am späten Nachmittag dann - die Sonne stand schon schräg - liefen die Pferde in einer Reihe einen schmalen Grat entlang, auf eine Felswand zu, die unüberwindlich schien. Wohin führt dieser Weg?, dachte Longsela. Beide - Yeshe und sie - waren zerschlagen und müde, und die Maultiere mit Schaum vor den Mäulern und schlagenden Flanken fast am Ende ihrer Kräfte. Als die Reiter in den Bergschatten traten, sah Longsela eine Art Einschnitt, eine Öffnung, die sich im Laufe der Zeiten an der Felswand gebildet hatte. Der Weg durch diesen Spalt war so eng, dass die Reiter die Wände zu beiden Seiten streiften. Die Hufe der Reittiere dröhnten in diesem Tunnel wie in einem Gewölbe. Weit über ihren Köpfen schimmerte ein schmaler, tiefblauer Streifen, doch nie fiel ein Sonnenstrahl in das Loch, in dem es nach Moder und ewigem Eis roch. Nur ein gewaltiger Luftzug fegte hindurch, dessen vielstimmiges Echo die Wände zurückwarfen. Hier sangen und schluchzten alle Geister, die seit der Erschaffung der Berge dagewesen waren. Die Reiter
drangen in diese

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