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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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zu ihrem Schlafzimmer auf. Da wich
sie schreckerfüllt zurück, erstickte einen Aufschrei. Eine Unbekannte starrte sie an, leichenblass, mit unfrisiertem Haar. Die Frau hatte ein Gesicht wie ein Gespenst, der Mund schief, ein Auge höher als das andere, die Nase seitwärts verschoben. Longsela prallte zurück gegen einen Menschen, der sie hielt, spürte einen vertrauten Geruch und Arme, die sie umfassten. Yeshe! Und gleichzeitig war es, als ob sich die Wahrnehmung verdoppelte, denn sie sah auch ihn mit entstelltem Gesicht und begriff, dass sie sich beide in einem Spiegel sahen. Es war der Wandspiegel, in dem sich Longsela kurz vor ihrer Abreise mit Sonam betrachtet hatte. Aus irgendeinem Grund hatten die Plünderer den Spiegel nicht entfernt. Sie hatten ihn jedoch zerschlagen, sodass eine Hälfte nach unten gesackt war und die Scherben schief hingen. Longsela holte tief Luft, löste sich behutsam aus Yeshes Umarmung.
    »Danke, Yeshe. Es tut mir leid. Ich bin sehr erschrocken.«
    »Der Spiegel macht Angst, Herrin«, erwiderte Yeshe. »Wir sollten hier nicht bleiben. Im Haus ist nichts. Aber ich hörte Geräusche im Stall.«
    »Ja, ich auch.«
    »Da versteckt sich jemand. Ein Plünderer, womöglich.«
    »Es kann auch ein Tier sein«, sagte Longsela. »Ein kleiner Hund?«
    Sie gingen die Stufen hinunter, Yeshe dicht vor ihr, die Pistole griffbereit. Nach dem Modergeruch im Haus empfand Longsela die kalte Abendluft als wohltuend. Sie gingen auf die Stallungen zu. Da, wieder das Rascheln! Yeshe hielt Longsela am Ellbogen zurück.
    »Ich gehe voraus.«
    Sie folgte ihm dicht auf den Fersen. Die alte Stalltür war halb offen. Yeshe stieß sie auf, blieb auf der Schwelle stehen.
    »Wer ist da?«
    Nichts rührte sich. Doch beide spürten, dass die Stille atmete. Yeshe trat langsam ein. Es war nicht völlig dunkel im Stall; aus
dem zerbrochenen Fensterrahmen fiel das Mondlicht. Außer einer Schubkarre und ein paar Geräten schien dort nichts zu sein. An der Wand lag ein kleiner Deckenhaufen. Longsela sah genauer hin, glaubte eine Bewegung zu erkennen. Während sie noch zögerte, machte Yeshe einige schnelle Schritte an ihr vorbei und zerrte die Decken weg. Die Stille füllte sich mit einem unheimlich hoch kreischenden Ton. Eine dünne, zusammengekrümmte Gestalt kam zum Vorschein. Longselas Herz tat einen Sprung in ihrer Brust.
    »Amla!«, flüsterte sie in die dunkle, stickige Luft hinein.
    Yangzom duckte sich vor ihr, kroch an der Wand entlang, wimmerte und zitterte.
    »Amla!«
    Longsela warf sich vor ihr auf die Knie, versuchte sie in die Arme zu nehmen. Die alte Frau schlug um sich wie ein verletztes Tier, geiferte und jammerte. Das Gesicht war verschwollen, der Mund klaffte auf. Die Augen waren schmale Schlitze, und der Schädel mit dem dünnen Haar wirkte kahl wie ein Kinderschädel. Über ihre Stirn lief eine rötliche, schlecht verheilte Narbe.
    »Komm«, stammelte Longsela. »Du kannst hier nicht bleiben.«
    Sie fasste Yangzoms Arme, spürte weiche Haut über gebrechlichen Knochen. Yangzom riss sich los und drückte sich mit einer heftigen Bewegung an die Wand. Longselas Stimme brach.
    »Amla! Ich bin es, Longsela, und hier ist Yeshe. Du kennst ihn doch!«
    Die Lider der Greisin zuckten. Sie blinzelte, als ob ihr das Mondlicht zu grell in die Augen schien. Ihr Mund öffnete sich krampfartig. Doch nur ein Gurgeln drang aus ihrer Kehle.
    Longsela strich ihr das verklebte Haar aus dem Gesicht, zog ihr das Gewand über die Schultern, zerschlissener grüner Brokat mit violetten Blumenranken, voller Risse, Blut und Schleim.

    »Wo sind die Kinder, Amla? Bitte, sag es mir!«
    Yangzom streckte zischelnd eine dunkel verfärbte Zunge hervor. Longsela und Yeshe wechselten einen verzweifelten Blick.
    »Sie hat Durst«, sagte Yeshe. »Warte hier, Herrin. Ich hole die Maultiere. Vielleicht kann ich hier ein Feuer machen.«
    Er ging, und Longsela kauerte sich neben ihre Mutter. Yangzom stank; das Heu um sie herum war voller Kot und Urin. Sie war barfuß, ihre kleinen Füße waren voller winziger blauer Flecken, Spuren von Glassplittern. Wahrscheinlich hatte sie gerade gestanden, wo eine Scheibe zerborsten war.
    »Kannst du mir nicht sagen, wo die Kinder sind?«
    Yangzoms Körper rutschte heftig herum, ihr Kopf schlug mit lautem Klatschen an die Wand, an der bereits Blutspritzer trockneten. Longsela entfuhr ein dünner, entsetzter Schrei.
    »Amla, du tust dir ja weh!«
    Yeshe kam mit den Maultieren zurück; wie ein Echo aus der

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