Das Haus der Tibeterin
Vergangenheit klang das Schlagen der Hufe auf den alten Steinen. Er stellte die Satteltaschen auf den Boden und machte sich an die Arbeit. Longsela half ihm, das besudelte Heu zu entfernen und die verschmutzten Decken so zu falten, dass ihre Mutter wieder sauber lag. Kleider zum Wechseln hatte sie nicht dabei, nur einen Schal, den sie Yangzom um die dünnen Schultern wickelte. Dann nahm sie Yangzoms Füße in ihren Schoß und pickte behutsam die Glassplitter aus ihren Wunden. Einige davon sahen tief aus und hatten sich entzündet. Yangzom lag jetzt still, ließ alles mit sich geschehen. Nur einmal, als Longsela einen langen Glassplitter entfernte, schrie sie vor Schmerz und strampelte heftig. Longsela sprach leise und tröstend zu ihr, wie zu einem Kind, massierte zärtlich die wunden Füße, bis die alte Frau wieder ruhig wurde. Inzwischen zerbrach Yeshe einige trockene Zweige, bereitete eine dürftige Feuerstelle und setzte einen kleinen Kessel mit Wasser auf. Yangzom schlürfte gierig den heißen Tee, den
Longsela ihr in einer Blechschale an die Lippen hielt. Unterdessen mischte Yeshe Tsampa-Mehl und kleine Fleischreste zu einem Teig. Als er Yangzom das Essen reichte, mit den ehrerbietigen Gesten von einst, öffnete sie weit den Mund. Sie hatte ihr künstliches Gebiss verloren, ihr Zahnfleisch war rot und geschwollen. Yeshe hielt die heiße Schüssel, während sie ihre schmutzigen Finger in den Brei tauchte und schmatzend das Essen verschlang. Dabei ließ sie Longsela nicht aus den Augen. Doch in ihrem Blick war nichts, kein Schimmer von Bewusstsein. Longsela hatte das Gefühl, dass ihre Mutter sie weder richtig wahrnahm noch wusste, wer sie eigentlich war. Als die alte Frau die Schale leer gegessen hatte, zwang sich Longsela zu einem Lächeln und zu einem letzten, verzweifelten Versuch.
»Amla, geht es dir jetzt besser?«
Der alte Kopf bewegte sich wie eine Kugel auf dem dünnen, verschrumpelten Hals. Und das war alles.
»Wo sind die Kinder, Amla?«
Yangzom betrachtete sie aus unsteten Augen, bevor ihr Kopf ruckartig vornübersank und sie sich genüsslich die Finger leckte.
»Sie kann nicht mehr sprechen«, sagte Yeshe. »Sie hat furchtbare Dinge erlebt.«
»Sie sieht uns gar nicht, Yeshe. Was sieht sie bloß?«
Er stieß einen Seufzer aus.
»Ich glaube, sie sieht nur das, was sie zuletzt gesehen hat.«
Longsela sank das Herz. Er drückte in seiner einfachen Sprache das aus, was sie längst befürchtet hatte. Von dem, was sie verrückt gemacht hatte, konnte nichts wieder rückgängig gemacht oder geändert werden.
Longsela straffte sich und fasste einen Entschluss.
»Ich bin nicht müde und gehe jetzt zum Norbulingka. Die Kinder werden bei meiner Freundin sein. Hier konnten sie ja nicht bleiben.«
»Es ist spät, und die Straßen sind nicht sicher«, gab Yeshe zu bedenken. »Es ist besser, ich gehe mit dir.«
Longsela verneinte mit entschiedenem Kopfschütteln.
»Mir wird nichts geschehen. Ich möchte, dass du bei meiner Mutter bleibst. Wir dürfen sie nicht wieder allein lassen.«
Yeshe fügte sich unglücklich.
»Aber nimm die Pistole, Herrin.«
»Ach, Yeshe«, seufzte Longsela. »Was soll ich denn damit?«
Yeshe wusste, dass Longsela, selbst in Lebensgefahr, kaum fähig sein würde, auf den Auslöser zu drücken.
»Es genügt vielleicht«, meinte er kläglich, »wenn du sie vorzeigst …«
Sie schüttelte nur den Kopf, und er sagte nichts mehr. Sie spürte hinter sich seinen traurigen Blick, als sie die morsche Tür aufstieß und mit klammen Fingern wieder hinter sich schloss. Das Letzte, was Longsela dabei an die Ohren drang, war das Seufzen und Schmatzen der Wahnsinnigen, die ihre Mutter war.
SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL
L ongsela ging schnell, wobei sie darauf achtete, dass sie so gut wie möglich im Schatten blieb. Es war bald Mitternacht, und obwohl die Straßen leer waren, vibrierte ein geheimnisvolles Wimmern über der Stadt, dann und wann von einem Klagelaut durchbrochen. Es war sehr kalt, eine durchdringende, beißende Kälte. In der Ferne waren die unteren Nebelschichten weiß erleuchtet. Von der Ringstraße kam ein Dröhnen, wenn Truppentransporte vorbeirollten. Es kam oft vor, dass Stiefel auf dem Pflaster zu hören waren, laut und im Gleichschritt. Longsela hörte sie kommen, was ihr Zeit gab, sich zu verstecken. Die Soldaten bildeten Gruppen von zehn oder fünfzehn Mann, das Gewehr im Anschlag. Sie packten wahllos die Leute, die sie fanden, durchsuchten sie nach Waffen und
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