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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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nach Nahrungsmitteln. Dann und wann huschten Scheinwerfer wie gespenstische Pinsel durch die Nacht. Lastwagen rumpelten daher, beladen mit Soldaten, die Parolen schrien oder Warnschüsse abgaben. Entfernte sich der Lärm, kamen die Menschen wieder aus ihren Verstecken. Longsela versuchte nicht mehr an Yangzom zu denken, obschon deren durchdringender Geruch noch an ihren Fingern haftete. Die Leiden der vergangenen Zeit hatten sich in ihr angesammelt wie in einer Schale, alle Schmerzen lagen darin. Im Gehen entsann sich Longsela daran, wie Lhasa einst voller Licht und Leben gewesen war, wie die Vornehmen, in kostbare Gewänder und Pelze gehüllt, auf edlen Pferden vorbeiritten, wie die Stimmen der Mönche über der Stadt sangen, wie die Butterlampen
brannten. Ob die Flammen in den Kupfergefäßen der Armen oder in den Goldschalen der Reichen brannten, derselbe Glaube leuchtete aus ihnen, sprach die Berge, die Stadt, ja den Tagesablauf heilig. Nun beleuchtete der Mond eine Gespensterstadt, in der nur die Angst eine Heimat fand. Er schwebte bereits tiefer, dieser Mond, als Longsela den Norbulingka erreichte. Die Mauer war an vielen Stellen beschossen worden. Longsela sah durch die Löcher Teile des zerstörten Sommerpalastes. Ein seltsamer Phosphorschimmer hing über den Ruinen, der weder Wärme noch Helligkeit verbreitete. Longsela konnte nicht ausmachen, was es war, vielleicht eine trübe Spiegelung des Mondes. Ein säuerlicher, unheimlicher Gestank lag in der Luft. Der Kyi Chu floss ganz nahe. Longsela hatte den Verdacht, dass die Chinesen Chemikalien in den Fluss geschüttet hatten, um das Trinkwasser zu verseuchen. Selbst die Frische unter den Bäumen schien mit Gift getränkt. Da, schon wieder ein Spähtrupp! Longsela hörte von Weitem ihre Schritte, erreichte noch rechtzeitig eine Gruppe von Weiden am Ufer. Die hängenden Zweige bildeten ein gesprenkeltes Netz, dicht genug, dass sie sich in ihm verbergen konnte. Von ihren hüpfenden Schatten begleitet, stapften die Soldaten an ihr vorbei. Longsela duckte sich tiefer und rührte sich nicht, bis sich die Schritte entfernten. Dann kroch sie aus ihrem Versteck hervor, lief - immer noch geduckt - im Schatten der Böschung weiter. Der Fluss murmelte und schwappte auf den Steinen. Einige Male sah Longsela aufgedunsene Leichen vorbeiziehen. Sie glichen jenen ausgestopften Puppen, wie sie die Kinder aus Stroh und Lumpen anfertigten. Longselas Lippen bewegten sich bei ihrem Anblick in einem lautlosen Gebet. Sie war nicht mehr weit von ihrem Ziel entfernt, der kleinen Sommerresidenz ihrer Eltern, wo sie Ling so oft besucht hatte. Eigentlich, dachte sie, müsste ich das Haus jetzt sehen. Sie konnte sich doch nicht in der Richtung geirrt haben; aber hier war weit und breit kein Haus. Unschlüssig blieb sie
stehen, kniff die Augen in der Dunkelheit zusammen. Sie sah Mauerreste, zerbrochene Balken, wie Pechkohle schimmernd. Da wusste sie, dass sie am richtigen Ort war und dass es das Haus nicht mehr gab. Alles war abgebrannt, ja nicht einmal mehr das kleine Häuschen für den Gärtner war übrig geblieben. Longsela betrachtete die Ruinen in einer Art von klarsichtiger Ohnmacht. Die Religion lehrte, in allen Vorgängen dieser Welt etwas Erscheinungshaftes zu sehen, dessen Glaubwürdigkeit sich anzweifeln ließ. Diese Bewusstwerdung machte den Menschen stark für das jenseitige Leben. Longsela fühlte sich jetzt dieser Empfindung sehr nahe. Doch sie war am Ende ihrer Kraft. Die Beine gaben unter ihr nach. In kalten Schweiß gebadet, setzte sie sich auf den Boden. Sie war müde, so entsetzlich müde. Hier war nichts und niemand, nur Zerstörung und Tod. Jetzt war eingetreten, was sie immer befürchtet hatte. Ihr Leben war hier verbrannt, ihre Hoffnungen begraben. Paldors Tod hätte sie überwinden können, denn sie beide hatten das Schicksal herausgefordert. Aber den Verlust ihrer Kinder würde sie niemals verkraften.
    Wer blieb ihr noch? Ihre Brüder? Sie war schon so lange ohne Nachricht von ihnen! Nein, sie hatte nur noch ihre Mutter, die den Verstand verloren hatte. Und Yeshe. Keine noch so große Zusammenballung von Bösem in der Welt konnte Yeshes Glauben, seine Nächstenliebe und Treue erschüttern. Ja, auf Yeshe konnte Longsela sich verlassen. Auf sich selbst nicht mehr. Der Fluss war nahe; zum ersten Mal überkam Longsela der unwiderstehliche Drang, sich den kalten Fluten zu überlassen, hinabzutauchen in ein finsteres Nichts, das Vergessenheit schenkte. Der Gedanke war

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