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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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beobachtete die Stute, lernte ihre kleinen Signale zu erkennen und wusste bald genug, dass sie mir das Pferd anvertrauen konnte.«
    Unwillkürlich fiel Longsela auf, wie gut er sich ausdrückte. Man merkte, dass er eine Schule besucht hatte.
    Phurbu sprach weiter, mit leiser, erschöpfter Stimme.
    »Ein paar Tage vor dem Start der Maschine fielen die Soldaten in das Haus der Weiden ein und nahmen alles mit, was sie tragen konnten. Alles andere schlugen sie kurz und klein. Sie zerrten die Ehrwürdige Herrin aus dem Haus; die Dienstboten mussten sie anspucken und schlagen. Ihr Hündchen Deki haben die Soldaten getötet. Sie waren rasend vor Hass, nicht aufzuhalten. Man holte Frau Wong. Sie lief zu einem Offizier, der gleichgültig dabeistand, und beschimpfte ihn. Das sei doch das Gegenteil all dessen, was die Partei verkündete! Wo sei hier eine harmonische Politik, und ob er sich nicht schämte! Schließlich entschuldigte sich der Offizier und rief seine Männer zurück. Aber die Soldaten hatten schon das meiste geraubt oder zerschlagen. Und wo die Ehrwürdige Herrin war, wusste keiner. Ein weinendes Dienstmädchen berichtete, sie sei gestürzt und habe sich am Kopf verletzt. Frau Wong und Lhamo suchten sie vergeblich in jedem Krankenhaus.«
    Longsela holte gepresst Atem.
    »Ich fand meine Mutter in den Stallungen. Sie hatte sich dort versteckt.«

    »War sie wohlauf?«
    »Sie hat mich nicht mehr erkannt«, flüsterte Longsela. Phurbu seufzte und sprach weiter: »Inzwischen wurden Hunderte von Mönchen und Nonnen aus den Klöstern gezerrt und hingerichtet. Die Erschießungen waren öffentlich. Alle mussten zusehen, sogar die Kinder. Die Eltern hielten ihnen die Augen zu. Auf die ausgestreckten Körper wurden Matten geworfen; sie wurden an Stangen gebunden, und man trug sie davon. Herr und Frau Wong sagten, die chinesische Regierung habe den Kopf verloren.«
    Phurbu schwitzte trotz der Kälte, wischte sich mit dem Handrücken über die klebrige Stirn.
    »Die Soldaten kamen bei Tagesanbruch, als alle noch schliefen. Zwei Lastwagen hielten vor dem Haus. Die Soldaten zerrten Herrn und Frau Wong aus dem Bett. Herrn Wong befestigten sie ein Schild um den Hals, auf dem das Wort ›Verräter‹ stand. Die Soldaten zogen ihn an einem Strick zum Ufer, beschwerten seine Füße mit Steinen und warfen ihn in den Fluss. Frau Wong wurde mit Stöcken geschlagen, bis sie ohnmächtig wurde. Sonam versuchte sie zu schützen, aber die Soldaten rissen sie an den Haaren zurück. Sie bildeten einen Kreis, hoben Sonam hoch und warfen sie sich gegenseitig zu, spielten mit ihr Fangball. Lhamo, die zwischen den Soldaten hin und her lief, um ihre Schwester zu befreien, schlugen sie in den Magen, dass sie zurücktaumelte. Und dann wurde Frau Wong mit einem Genickschuss getötet. Es war Kelsang, der das Gewehr hielt.«
    Longsela hob beide Hände, wie um Dinge abzuwehren, die zu furchtbar waren, als dass man sie an sich heranlassen konnte. Alle Qualen, die sie bisher durchgestanden hatte im Vermuten und Raten und Nichtwissen, waren milde gegen das Grauen, das sie jetzt überfiel.
    »Was hast du gesagt? Das kann nicht sein!«
    Phurbu bezwang das trockene Schluchzen, das seine magere Brust schüttelte.

    »Doch, Herrin. Ich sah es mit eigenen Augen! Sie zerrten Kelsang herbei, obwohl er sich heftig sträubte, legten seinen Finger auf den Abzug und drückten seine Hand, bis der Schuss sich löste.«
    Longselas Geist taumelte durch eine Finsternis, der Zelle ähnlich, der sie durch ein Wunder entronnen war. Nein, nein, nein, schrie es in ihr.
    »Ist das die Wahrheit? Kannst du es beschwören?«
    »Ja, Herrin«, sagte Phurbu feierlich, den Blick auf das lächelnde Antlitz über den Gänseblümchen gerichtet. »Ich schwöre es im Angesicht Seiner Heiligkeit!«
    Longsela stieß einen Seufzer aus, wie Kranke ihn manchmal hören lassen.
    »Es ist gut. Ich glaube dir. Und was geschah dann?«
    Phurbu sprach weiter.
    »Kelsang weinte laut. Aber die Soldaten lobten ihn mit Gelächter und Schulterklopfen. Der Anführer sagte zu ihm: ›Junge, du hast gute Arbeit geleistet! Du hast eine Feindin des Volkes getötet! Wir schenken dir das Gewehr, du wirst es noch öfter brauchen.‹ Dann wurde ihm und seinen Schwestern befohlen, in den Lastwagen zu steigen. Und man brachte sie weg.«
    Longsela bewegte mühsam die Lippen.
    »Wohin, Phurbu? Weißt du das?«
    »Man sagt, sie bringen alle Kinder in Lager. Dort müssen sie schwere Arbeit verrichten und werden zu Soldaten

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