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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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handelte wie in einer Art Trance, eine unerklärliche innere Macht war es, die sie trieb. Noch eine Straße, und noch eine. Überall lag Schutt. Endlich sah sie das Haus, von Staubwolken umgeben. Die Bomben waren ganz in der Nähe gefallen. Longsela hustete und keuchte, ihre Lungen brannten. Die Welt um sie herum hatte so etwas wie einen vollkommenen Stillstand erreicht. Phurbu und sie waren die Einzigen, die sich in dieser Welt noch bewegten, und folglich war das alles so etwas wie ein verrückter Traum. Sie lief auf das Haus zu. Ein Teil der Fassade, die zuvor noch gestanden hatte, war eingestürzt, die Torflügel hingen schief. Aber die Stallungen schienen unversehrt. Longsela hörte sich rufen, wie einst als kleines Mädchen: »Amla, ich komme ja schon!«
    Sie stolperte über einen weichen Gegenstand, der in einem Schutthaufen lag. Sie stürzte, beide Arme ausgestreckt. Der Gegenstand fühlte sich warm an. Unter der weißen Schicht waren Fetzen sichtbar: grüner Brokat mit violetten Blumenranken. Der Stoff war nass und gerötet. Ein Gesicht war auch da, ein Gesicht mit einer fein geschwungenen Nase und einem edel geformten Kinn. Um den kleinen, dunkelroten Mund herum zog sich eine Spur von abgesplittertem Gips. So hatte auch eine Puppe aus bemaltem Ton ausgesehen, mit der Longsela lange Jahre gespielt hatte, bevor sie von Kelsang, der ein schwieriges Kind war und alles anfasste, an die Wand geschmettert wurde.
    »Amla!«, flüsterte Longsela.
    Ihre Mutter lebte nicht mehr, aber die Starre des Todes hatte sich noch nicht eingestellt. Ganz in der Nähe lag im Schutt ein zweiter Körper, die Beine ausgestreckt, die Arme weit ausgebreitet. Longselas Lippen formten einen Namen: »Yeshe.«

    Sie spürte eine Bewegung neben sich, hörte schwere Atemzüge und sah zu Phurbu hoch.
    »Beide sind tot.«
    Er nickte. Aus dem Stall drangen Wiehern und Stampfen. Heftige Schläge erschütterten die morschen Wände. Phurbu sah sie fragend an.
    »Die Maultiere«, murmelte Longsela.
    Er nickte verstehend und ging. Longsela nahm an, dass die erschreckten Maultiere sich losgerissen hatten, als die Bomben fielen. Yeshe hatte sie nicht bändigen können. In panischer Furcht war Yangzom aus dem Stall gelaufen. Yeshe hatte wohl versucht, sie zurückzuholen. Und jetzt waren beide tot.
    Die Morgensonne blutete, der Staub färbte sich rot. Das Haus wird bald einstürzen und mich begraben, dachte Longsela. Oder vielleicht war sie es, die das Haus in sich einsog, mit jedem Luftholen, mit jedem Ausdehnen ihrer schmerzenden Lungen?
    Phurbu kam zurück.
    »Die Maultiere haben sich beruhigt, Herrin.«
    »Ich danke dir, Phurbu«, murmelte Longsela.
    Weder ihre Mutter noch Yeshe konnte sie bestatten, dazu fehlte ihr die Kraft. Sie zog ihren Rosenkranz hervor und sprach die Gebete, die den Verstorbenen den Weg in den Himmel öffnen. Phurbu kniete neben ihr nieder, sprach leise die Begleitworte. Als sie geendet hatte, zog Longsela ihren Schal über das staubweiße Antlitz ihrer Mutter und hüllte Yeshe in seinen alten, zerfetzten Mantel. Dann richtete sie sich auf, mit wankenden Knien, indem sie sich an Phurbus Arm hielt.
    »Glaubst du, dass sich die Maultiere satteln lassen?«
    Er sah sie erschrocken an.
    »Ich habe Angst um Euch! Die Soldaten sind überall. Wohin reitet Ihr, Herrin?«
    »Zur Ramagang-Fähre«, sagte sie. »Man hat mir dort Hilfe versprochen.«

    »Oh, Herrin!«, rief Phurbu. »Ich hörte, dass in Ramagang die Rebellen sind! Ich will auch zu ihnen und kämpfen.«
    Longsela legte ihre staubige Hand auf seine Schulter.
    »Komm! Du kannst mit mir reiten!«

ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL
    D er Ritt zur Fähre hinterließ in Longsela eine seltsame Erinnerung, ein Gefühl wie zwischen Wachsein und Schlaf. Eine grenzenlose Barmherzigkeit musste ihr beigestanden haben, dass sie die Strecke unversehrt zurücklegen konnte. Phurbu hatte ein gutes Ohr zum Hören, ein scharfes Auge zum Sehen und bemerkte sofort, wenn irgendwo in der Ferne die Fahrzeuge der Volksarmee auftauchten oder wo sie ihre mobilen Kontrollposten aufgestellt hatten. Es sei gar nicht schwierig, sie im Auge zu behalten, meinte Phurbu, die Volksarmee folge ja stets dem Weg der Dämonen! Er wollte damit sagen, dass die Soldaten auf den Hauptstraßen blieben. Der Überlieferung nach bewegten sich nämlich die Dämonen nur auf geraden, niemals auf gewundenen Wegen. Die Bedeutung war, dass der Mensch, der bereitwillig das Böse zuließ, den Dämonen schrankenlos sein Herz öffnete.

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