Das Haus der Tibeterin
sich mit dem Gesicht zur Wand und schlief ein. Diesmal schlief sie traumlos und gut. Ein paar Mal erwachte sie, weil sie Stimmen hörte. Als sie durch das kleine Fenster schaute, stellte sie fest, dass es bereits dunkel wurde. Es war schon spät am Abend, als Longsela schlagartig erwachte. Sie hörte lautes Hufgetrappel und den Lärm vieler Stimmen. Longselas Herz schlug stürmisch. Sie tastete nach der Karbidlampe, blinzelte im kreidigen Licht, als plötzlich die Tür aufflog und Kanam mit einem kalten Luftzug in den Raum trat. Satteltasche und Gewehr trug er über der Schulter. Longsela sah auf den ersten Blick, dass er völlig durchnässt war. Er warf die Satteltasche auf den Boden, nahm den Umhang ab und schüttelte ihn, dass die Wassertropfen flogen. Dabei sagte er in beiläufigem Tonfall: »Eine Handvoll Soldaten verfolgten uns. Wir mussten durch den Fluss reiten. Er trägt schon an manchen Stellen Eis.«
»Hast du Leichen gesehen?«, fragte Longsela.
Er warf sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Viele. Die meisten waren Chinesen.«
»Du musst deine Kleider trocknen«, sagte sie.
»Macht es dir nichts aus?«
Sie schüttelte wortlos den Kopf. Er knüpfte den Gürtel auf, an dem sein Kurzschwert hing, das rasselnd zu Boden fiel. Danach wühlte er in der Satteltasche und brachte einige Kleidungsstücke zum Vorschein. Abseits von der Lampe entledigte er sich seiner Stiefel und zog sich bis auf den Lendenschurz aus. Longselas Augen glitten flüchtig über seine muskulöse, geschmeidige Gestalt. Seine Bewegungen waren schnell und jugendlich. Er rieb sein Haar trocken, bevor er sich in eine Decke wickelte. Dann breitete er seine Kleider über der Leine aus, bevor er sich zu Longsela setzte. Sie schraubte den Thermoskrug auf.
»Der Tee ist warm«, sagte sie. »Ich habe auch noch Kartoffeln.«
»Danke. Ich könnte schon etwas vertragen.«
Sie reichte ihm den Becher und die Schüssel mit den Kartoffeln, die er gierig und ungeschält in sich hineinstopfte.
»Es war ein harter Tag«, sagte er mit vollem Mund. »Und die Nacht wird kurz sein. Beim ersten Hahnenschrei müssen wir weiter.«
»Wohin?«
»Nach Chusul. Uns geht die Munition aus. Sie schaffen immer mehr Soldaten herbei. Wir müssen die Kerle abfangen, bevor sie nach Lhasa kommen.«
Er trank schlürfend den Tee, wobei er sie nicht aus den Augen ließ.
»Schlechte Nachrichten?«
Longsela holte schwer Atem.
»Sehr schlechte, Kanam! Meine Mutter und Yeshe sind tot. Meine Kinder wurden von den Soldaten verschleppt. Kelsang … mein kleiner Junge … musste meine Freundin Ling erschießen! Ihr Mann wurde gefesselt und in den Fluss gestoßen.« Ihre Stimme brach. »Warum tun sie solche Dinge, Kanam? Ich verstehe das nicht!«
Er antwortete sachlich.
»Longsela, die chinesische Partei verfügt über williges Menschenmaterial. Aus gutgläubigen Massen macht man Fanatiker oder Märtyrer, was aufs Gleiche hinausläuft. Die Vorstellung der Kommunisten, ihre Krankheit, besteht darin, dass sie die Welt zerstören in dem festen Glauben, sie könnten eine bessere aufbauen. Sie haben dieses verrückte, tollwütige Verlangen, von sich selber gut zu denken. Dabei tragen sie in sich eine sehr komplizierte Mischung aus Opferbereitschaft und Eitelkeit. Mich überkommt ein maßloser Zorn, wenn ich sehe, dass die gleichen Leute, die sich gegenseitig zu Millionen umbringen, uns weismachen wollen, dass ihre Art zu leben die richtige sei. Deine Freunde haben ihren Mund nicht gehalten. Und weil sie ein Sandkorn im Getriebe waren, mussten sie sterben. Widerwärtig, aber voraussehbar.«
»Aber Kelsang?« Longsela würgte die Worte hervor. »Sie gaben ihm ein Gewehr in die Hand und drückten seine Finger auf den Abzug! Warum nur? Warum?«
»Weil er genau im richtigen Alter ist, um ein gutes Parteimitglied zu werden. Ein Glück für ihn übrigens, dass er mitgespielt hat. Sonst hätte man ihm mit einem Fleischmesser die Finger abgeschnitten.«
»Bitte, sag nichts mehr darüber«, flüsterte Longsela.
»Ich kann auch schweigen, wenn es dir lieber ist.«
»Nein. Ich will wissen, was aus ihnen jetzt wird.«
»Sie werden sich abrackern und jeden Morgen die rote Fahne grüßen. Dass Lhamo in China zur Schule ging, ist gut. Sie brauchen Dolmetscher. Jetzt stehen alle drei unter Schock. Aber später, wer weiß? Sind sie stark, widerstehen sie der Gehirnwäsche. Die chinesischen Erziehungsmethoden sind nicht immer erfolgreich.«
Schüttelfrost überzog Longselas
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