Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
Vom Netzwerk:
Ein religiöses Gleichnis, das Phurbu durchaus wörtlich nahm. Longsela hatte ihm Kanams Pistole gegeben. Phurbu war stolz, dass er jetzt eine Waffe trug. Longsela fragte sich oft, wie sie es ohne ihn geschafft hätte. Die Kopfschmerzen waren wieder da, nahmen den gesamten Raum unter den Augenbögen ein. Longsela hielt sich kaum noch im Sattel. Sie dachte unentwegt und in großer Verzweiflung an ihre Kinder. Sie musste damit rechnen, dass sie sie vielleicht nie wiedersehen würde. Aber solange der Lebensfaden nicht zerrissen war, bestand Hoffnung. Longsela durfte nicht zulassen, dass sie der Wahnsinn belauerte und hinterrücks angriff, wie er ihre Mutter überfallen hatte.
Sie wollte ihren Verstand nicht dieser Not aussetzen. Sie hatte Halluzinationen: fallende Tropfen, wie zufällig eingefangen, die über ihre Augen rieselten. Oder Berge, die ihre Form veränderten, sich schwerelos wie Wolken in den Himmel hoben. Zum Glück war Phurbu bei ihr - Phurbu, der sie umsorgte, Feuer anzündete, ihr Tee zu trinken gab, wenn sie vor Erschöpfung kaum noch fähig war, den Becher zu halten. Reiten, reiten, immerzu, mit eisigen Füßen, das Gesicht von der Sonne verbrannt und dem beißenden Wind ausgesetzt. Longselas Finger waren halb gekrümmt, die Haut runzelig mit durchscheinenden blauen Stellen darunter. Sie hatte auch Flöhe, ihr ganzer Körper juckte. Weil sie langsam ritten, vergingen zwei Tage, bis sie endlich die Stromschnellen erreichten. Der stark angeschwollene Fluss, funkelnd in der Morgensonne, führte Steine, Baumstrünke und Erdschollen in seinem Wasser mit. Die Luft, vom Tosen der Wellen erfüllt, roch nach nassen Gräsern und faulem Schlamm. Am Ufer entlang weideten Drongs, schwerfällige wilde Yaks, die gelegentlich Menschen anfielen und zertrampelten. Die Fährleute fertigten aus dem Leder der Tiere die Boote an, in denen sie die Reisenden ans andere Ufer brachten. Das weiche Leder wurde über Holzlatten gespannt, die mit Stäben verstärkt wurden. Sie sahen geschmeidig und leicht aus; die Männer schleppten sie anscheinend mühelos auf ihren Schultern herbei. Aber zehn Leute konnten bequem in einem dieser Boote Platz nehmen. Ein zweites Boot trug das Gepäck. Die Fährleute stießen die tänzelnden und schwankenden Boote mit langen Stangen vom Ufer ab und paddelten durch die Wellenkämme. Maultiere, Hirtenhunde und Pferde mussten schwimmen. Reiter, die die Überfahrt nicht bezahlen wollten, zogen ihre Kleider aus, die sie in die Satteltaschen packten, hingen sich an ihre Tiere und kamen auf diese Weise über den Strom. Flussabwärts, wo die Wellen etwas flacher schlugen, bog der heftige Wind Stangen, an denen zerlumpte Gebetsfahnen flatterten. Eine Anzahl Lehmhäuser standen
dort. Longsela wies darauf und sagte zu Phurbu: »Reite zu den Fährleuten und frage nach Tashi. Teile ihm mit, dass ich von Kanam komme.«
    Phurbu machte sich auf den Weg. Einige Hirtenhunde liefen ihm mit wütendem Gebell entgegen, doch die Männer am Ufer riefen sie zurück. Longsela sah, wie Phurbu eine Weile mit den Männern sprach, bevor er in schnellem Trab zu ihr zurückritt.
    »Tashi bittet Euch in sein Haus. Seine Frau wird für Euer Wohl sorgen.«
    Vor dem Haus, das sich ziemlich abseits befand, warteten eine Anzahl Männer neben ihren Pferden. Sie nahmen die Ankömmlinge scharf und argwöhnisch ins Auge, doch Phurbu sah auf ersten Blick, dass diese Reiter zu den Rebellen gehörten, und machte ein ganz glückliches Gesicht. Inzwischen saß Longsela wie erstarrt auf ihrem Maultier. Phurbu hob sie wie ein Kind aus dem Sattel, setzte sie vorsichtig auf die gestampfte Erde nieder. Dann trug er das wenige Gepäck, das sie hatte, dem Haus entgegen. Eine Frau trat aus der Tür und ging Longsela entgegen. Sie hatte das verwitterte Gesicht der Khammo, und sie trug kleine Türkise und Korallen in den dünnen, grauen Zöpfen. Ihre Begrüßung war warmherzig und mütterlich besorgt.
    »Tretet ein, Lhascham (Dame)! Ich heiße Gyala; bei mir seid Ihr in Sicherheit!«
    Während sich Phurbu um die Maultiere kümmerte, führte die Frau Longsela in ein dürftig eingerichtetes, aber solides Haus aus Backsteinen und Balken. Man saß auf dem Boden, Kisten dienten als Tische. Auf einem kleinen Tragaltar, mit weißen Glücksschärpen geschmückt, stand in einem Glasrahmen ein Bild Seiner Heiligkeit. Longsela verneigte sich vor diesem Bild, bevor Gyala die Tür zu einem Zimmer aufstieß, das nur ein kleines Fenster hatte, ähnlich einer

Weitere Kostenlose Bücher