Das Haus der Tibeterin
erzogen.«
Longsela nickte wortlos. Sie erkannte, dass, obgleich sie ihre Kinder zur Welt gebracht hatte, diese ihr eigenes Karma hatten, das sie tragen mussten. Der Wind der Bosheit trieb sie umher wie kernlose Hülsen. In so jungen Jahren keine Hoffnung mehr zu haben war schlimmer als der Tod. Aber vielleicht erwartete sie ein Neubeginn, vor dem Redliches sie retten konnte, während der weise Buddha Verfehltes verzieh. Vielleicht waren die drei Kinder hellsichtig.
»Und danach?«, fragte sie.
»Danach plünderten die Soldaten, die noch geblieben waren, das Haus. Sie schafften alle Dinge in den zweiten Lastwagen. Sie erschossen sämtliche Tiere, die kleinen Hunde, ja sogar die Enten im Teich und die Pfauen in den Büschen. Sie erschossen auch Dakini. Die Schafe, aus deren Fell meine Mutter Wolle gewann, nahmen sie mit, um sie später zu schlachten. Zum Schluss zwangen sie meine Eltern, in den Wagen zu steigen, und setzten das Haus in Brand. Meine Mutter hatte mir befohlen, mich zu verstecken, und so fanden die Soldaten mich nicht.«
Longsela rieb sich die Stirn. Die Trauer war anfänglich wie ein Schock, brachte die Menschen in einen sonderbaren Zustand der Loslösung. Sie war noch nicht unerträglich, aber sie würde es bald sein. Die Zeit würde sie austragen, aber niemals heilen. Sie würde wachsen, über Jahre hinweg wachsen.
Phurbu sagte: »Später durchsuchte ich die Ruinen und fand noch ein paar Sachen, die ich in dieses Loch schaffte. Ich wohne jetzt da, Herrin.«
Longsela bewegte langsam den Kopf hin und her, als wäre sein Gewicht zu schwer zu tragen.
»Jetzt habe ich nur noch meine Mutter, die meine Hilfe braucht. Sobald es hell wird, gehe ich zu ihr. Ich … ich möchte jetzt etwas schlafen.«
Sie legte sich auf die kalten Steine, legte die Finger flach auf die geschlossenen Augen. Sie spürte, wie Phurbu die Decke über ihr ausbreitete, bevor alles tiefdunkel wurde. Phurbu hatte das Flämmchen gelöscht. Und so schlief sie ein.
Im Traum sah Longsela eine steinerne Buddha-Figur. Solche Buddhas gab es an vielen Orten. Dieser war riesengroß und stand in einer mit einer Kuppel versehenen Nische. Buddhas Kopf nahm die ganze Kuppel ein. Das Gesicht war sanft und freundlich, die eine Hand segnend erhoben. Da geschah etwas Seltsames: Aus den steinernen Augen lösten sich zwei Tränen,
hinterließen auf dem steinernen Antlitz eine lange, glitzernde Spur. Und während Longsela den weinenden Buddha betrachtete, krachte ein Donnerschlag durch ihren Traum. Die Statue schien zu zerbersten. Linien absoluter Schwärze brachen hindurch, blitzende Muster und Ranken sprühten über die Dunkelheit hinweg in ihre Augen. Sie schreckte hoch, hörte Explosionen, die nicht in ihrem Traum waren.
»Sie bombardieren wieder«, sagte Phurbus Stimme neben ihr. »Es ist bald vorbei.«
Das Dröhnen kam von allen Seiten, ein blitzartiges Pfeifen, ein trockenes Zischen. Die kleinen chinesischen Flugzeuge senkten sich über die Stadt, es folgte das scharfe Rattern der Geschosse. Dann, nach einer Weile, kehrte Ruhe ein. Longsela richtete sich auf, brachte hastig ihre Kleider in Ordnung.
»Ich gehe zu meiner Mutter, Phurbu. Yeshe ist bei ihr. Sie werden Angst um mich haben.«
»Wartet lieber noch etwas«, warnte sie Phurbu. »Die Flugzeuge kommen gleich wieder!«
»Nein, ich muss gehen.«
»Ich begleitete Euch, Herrin«, sagte Phurbu.
Sie verließen die Ruinen, stapften über Mauerreste und Schutt. Die Sonne ging gerade auf, schimmerte im Staubnebel glutrot. Die Bomben mussten am Barkhor gefallen sein. Longsela und Phurbu drängten sich durch die entsetzten Menschen, die alle in die entgegengesetzte Richtung flohen, Frauen und Kinder, taumelnd vor Angst, manche hinkend oder blutüberströmt. Wieder sauste ein Flugzeug über ihre Köpfe hinweg. In kurzer Entfernung wucherte eine Explosion über die Straße. Longsela drückte beide Hände auf ihre Ohren. Ihr Trommelfell krachte und zischte. Sie sah, wie kleine Krater im Asphalt aufsprühten; es war, als ob diese Krater sich von allein öffneten, völlig lautlos. Longsela schluckte ein paar Mal. In ihren Ohren gab es eine Art schmerzliches Knacken, dann wurde ihr Trommelfell wieder frei. Rauch und Staub hüllten
alle Straßen ein. Als sich der Lärm etwas beruhigte, setzte sich Longsela, von Phurbu dicht gefolgt, wieder in Bewegung. Mit einem Teil ihres Verstandes war sie sich wohl bewusst, dass sie seit Tagen Risiken einging, die keineswegs mehr vernünftig waren. Sie
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