Das Haus der Tibeterin
Schießscharte. Die Frau stellte eine Karbidlampe neben einen Stapel Decken
auf den Boden. Kleidungsstücke trockneten auf einer Leine. Eine Seite aus einer indischen Zeitung, mit einem Foto des Dalai-Lama, war an die Wand geheftet. Unter dem vergilbten Papier steckten einige Blumen. Die Khammo half Longsela, sich auf die Decken zu setzen.
»Wartet nur, Ihr werdet sehen - ja -, ich bin gleich wieder da!«
Gyala sprach mit sich selbst; ihre Worte hatten kaum eine Bedeutung, waren nur der Ausdruck ihrer Fürsorge. Longsela lehnte sich erschöpft an die Decken und rührte sich nicht mehr. Ihr Kopf schmerzte zum Verrücktwerden. Schon kam Gyala wieder zurück, brachte eine Schüssel mit heißem Wasser, ein vertrocknetes Stück Seife und ein kleines Tuch.
»So, gleich werdet Ihr euch besser fühlen. Und wenn Ihr noch irgendetwas braucht - ruft Gyala!«
Wieder allein, fuhr Longsela mit zitternden Fingern durch ihr Haar. Es gab keinen Spiegel in dem Zimmer. Longsela hätte sich gern betrachtet. Sie zog sich aus, Stiefel inbegriffen, tauchte die Hälfte des Tuches in das Wasser und wusch sich. Das Wasser war heiß und angenehm und linderte das Jucken der Flohbisse. Mit der anderen Hälfte des Tuches trocknete sie sich ab. Ihre schmutzigen, verstaubten Kleider konnte sie nicht wechseln. Doch sie schüttelte sie gründlich aus, damit die Flöhe herausfielen. Zum Schluss tauchte sie ihr Haar in die Schüssel, in der sich bereits eine dicke Sandschicht angesammelt hatte. Als das Haar nass war, flocht sie es wieder und fühlte sich weniger scheußlich. Im schmutzigen Wasser wusch sie auch noch ihre Wollsocken und hängte sie an der Leine auf. Sie hoffte, dass sie rechtzeitig trocknen würden. Gyala kam wieder, brachte Gemüsesuppe, Kartoffeln und einen Thermoskrug mit Tee, der heiß und stark gesüßt war, sodass sie sich gleich kräftiger fühlte.
»Wo ist Phurbu?«, fragte sie.
Die Khammo kniff die Augen zusammen und zeigte ein Grinsen, das ihr dunkles Zahnfleisch entblößte.
»Der junge Mann sitzt bei den Unsrigen und hört zu, was sie erzählen. Er sagt, dass er mit ihnen kämpfen will. Nun, offenbar hat er das Zeug dazu. Ich gab ihm zu essen. Ihr könnt ganz beruhigt sein; auch die Maultiere wurden verpflegt.«
Longsela bedankte sich und fragte nach Kanam.
»Der Gap ist nicht hier, aber er kommt bestimmt«, sagte Gyala. »Morgen oder vielleicht schon heute Abend.«
Sie ließ Longsela allein, wahrend diese sich stärkte. Longsela löffelte die Suppe und aß eine Kartoffel; die anderen rührte sie nicht an. Ihr Magen war wie zugeschnürt. Dann und wann hörte sie Schritte und Stimmen im Haus. Ein paar Mal knarrte die Tür, einige finster aussehende Männer schauten durch den Spalt. Longsela hörte, wie Gyalas wütende Stimme sie zurückrief. Etwas später wurde höflich an die Tür geklopft, und ein Mann trat ein. Er hatte eine kraftige, gedrungene Gestalt mit einer Haut wie glänzend gegerbtes Leder. Er trug eine Pistole und ein »Kukri« - ein nepalesisches Haumesser - im Gürtel. Sein verwegenes Aussehen täuschte. Er hatte gute Umgangsformen, und der Blick aus seinen grauen Augen war freundlich. Er fragte Longsela, wie sie sich fühlte.
»Danke, mir geht es wieder gut«, erwiderte sie.
»Ich bin Tashi«, sagte der Mann. »Willkommen in meinem Haus!«
Sie bat ihn, sich zu setzen, und er sagte: »Wir erleben schlimme Zeiten, Lhascham. Ein Glück, dass Seine Heiligkeit fliehen konnte!«
»Ja, das wurde mir berichtet.«
»Er ist in Sicherheit, das tröstet unser Herz. Aber die Chinesen wollen Lhasa dem Erdboden gleichmachen. Es gab Tage, da war der Fluss voller Leichen, die der Strom vorbeitrug. Auch kleine Kinder! Die Fährmänner weigerten sich, die Boote loszubinden.«
Longsela nickte stumm. Tashi fuhr fort: »Die Chinesen sind die Feinde unserer Religion. Wir kämpfen und tun unser Möglichstes. Aber wir kämpfen mit bloßen Händen gegen Flugzeuge und Kanonen.«
Longsela atmete schwer.
»Ich … war in Gefangenschaft der Volksarmee. Mein Leben verdanke ich Kanam. Jetzt bin ich hier und warte auf ihn.«
Tashi zeigte kein Erstaunen.
»Ruht Euch aus, Lhascham. Keiner wird Euch stören. Für Euren jungen Begleiter ist gesorgt. Wenn der Gap kommt, werde ich ihn wissen lassen, dass Ihr hier seid.«
Er verließ sie, und Longsela richtete sich mit den Decken ein kleines Lager. Die Decken waren schmutzig und fettig, viele Leute hatten bereits in ihnen geschlafen. Doch Longsela war das gleich. Sie drehte
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