Das Haus der Tibeterin
nicht einmal barsch an. Sie kauerte ihm zu Füßen, gelähmt und ausdruckslos, beide Hände vor den Mund gepresst, wie ganz außer Atem.
Chang Lai sprach jetzt mit größerer Schärfe.
›Antworte! Warum?‹
Da riss sie die Hände vom Mund, ließ sie geballt in der Luft stehen, bevor sie sich schwankend erhob und ihm ins Gesicht
sah. Und als sie ihn mit jugendlicher, herausfordernder Stimme anschrie, fiel mir auf, dass sie fast so groß war wie er.
›Weil ich euch hasse! Weil ihr Lügner seid und ich auf euch spucke!‹
Sie verstärkte jedes Wort mit Gesten, die Übelkeit verdeutlichten. Und dann spuckte sie ihm tatsächlich ins Gesicht. Wer tut schon so was, in einem Lager? Ich dachte, dass sie ihre fünf Sinne nicht ganz beieinanderhatte, dass sie wahnsinnig vor Wut war, weil die Soldaten sie zum zweiten Mal eingefangen hatten. Aber ach, kannte ich Sonam so schlecht? Der Kampf war ihr Element, sie ging völlig darin auf, bis jedes Mal der Konfrontation eine totale körperliche Erschöpfung folgte. Dann ließ sie sich einfach fallen, wie ein Stein ins Wasser fällt, unzugänglich, apathisch. Aber diesmal war sie zu weit gegangen. Ich war überzeugt, dass Chang Lai sie in Reaktion auf die Beleidigung auf der Stelle hinrichten lassen würde, diese Unruhestifterin. Und was wurde dann aus mir?
Chang Lai jedoch war ein besonnener Mann, ein Mann, der nie die Nerven verlor. Er zog bedächtig ein Taschentuch hervor und wischte sich die Spucke von der Wange ab. Dann gab er einen Befehl. Auf sein Wort hin umringten sie die Soldaten, die schon ganz nahe waren, auf der Lauer. Für einen Augenblick - nicht länger - hielt sie ihre Angreifer mit dem Blick des Hasses im Zaum. Dann wurde sie gepackt, und man riss ihr sämtliche Kleider vom Leib. Sie wehrte sich mit allen Kräften, doch es war ein aussichtsloser Kampf. Die Soldaten fielen über sie her wie Bluthunde, hielten sie am Boden fest und vergewaltigten sie, einer nach dem anderen. Chang Lai sah zu, mit einer Art von klinischer Kühle. Er hatte ihnen die Erlaubnis gegeben. Ich aber stand hilflos da, nichts in meiner Natur war darauf vorbereitet. Was konnte ich sagen? Was konnte ich machen? Mein Denken hörte einfach auf. Als wäre alles in mir verkapselt. Dabei fühlte ich mich selbst so fremdartig, dass ich glauben mochte, ein Unbekannter weilte plötzlich in mir. Und
als mich alle laut lachend aufforderten, es auch zu tun, und Chang Lai mir ermutigend zunickte, da verstand ich zunächst gar nicht, was sie von mir wollten. Ich stand da wie ein Klotz, alle lachten mich aus. Und da ich mich nicht rührte, schlugen sie auf mich ein, keine sehr harten Schläge zwar, aber immerhin konnte ich begreifen, dass Chang Lai mir etwas befohlen hatte. Und weil ich jede Art von körperlichem Schmerz fürchtete, musste ich es tun. Irgendwie gelang es mir auch, weil Sonam nackt vor mir am Boden lag und in ihrer Nacktheit etwas war, das mich erregte. Ich verschloss mich jeder Empfindung, außer den Empfindungen meines Körpers, und tat, was von mir verlangt wurde. Als ich mich hochrappelte, meine Hose zurechtrückte, hörte ich von allen Seiten, wie die Soldaten mich beglückwünschten. Ich sah mich wie von außen geradewegs auf sie zugehen und hatte dabei das Gefühl, ich sei gar nicht in meinem Körper. Irgendwie kam ich durch sie hindurch, wahrscheinlich gingen sie einen Schritt zur Seite. Ich schleppte mich zu einem Baum, lehnte mich an einen niedrigen Stamm und krümmte mich mit einem dumpfen Stöhnen, das abrupt endete, als sich mein Mageninhalt auf den Boden ergoss. Und dann saß ich einfach da, ganz still, bis ich unsichtbar wurde.
Doch die Soldaten waren mit meiner Schwester noch nicht fertig. Einer öffentlichen Vergewaltigung folgte immer eine Züchtigung. Also richteten sie Sonam auf und fesselten sie mit ausgestreckten Armen an einen Pfahl, an dem sonst die Maultiere festgebunden wurden. Zwanzig Peitschenhiebe, hatte Chang Lai befohlen. Fünfzig waren eine Todesstrafe. Sonam musste aufrecht dastehen, die Arme ausgebreitet und die Hände auf der Querstange. Manche Gefangene sackten nach den ersten vier oder fünf Schlägen schon auf die Knie. Andere begannen schon beim ersten Peitschenknall zu schreien. Nicht Sonam. Sie hätte sich eher die Zunge abgebissen, als nur einen Schrei hören zu lassen. Die Peitsche knallte und knallte,
ich zählte die Hiebe nicht mehr mit. Nicht Sonam, ich war es, der flennte und stöhnte, aber keiner hörte es, weil sich keiner um mich
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