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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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kümmerte. Ich wusste, Sonam erduldete Schmerzen, die unfassbar waren - warum schrie und weinte sie nicht, warum bat sie Chang Lai nicht um Verzeihung, warum bettelte sie nicht um Gnade? Alle warteten darauf, aber das Ärgerliche war: Sie blieb weiterhin stumm. Am Ende gaben die Beine unter ihr nach, aber die Fesseln verhinderten, dass sie auf die Knie sank. Das war auch der Augenblick, in dem Chang Lai, der jeden Hieb mitgezählt hatte, das Zeichen zum Aufhören gab. Zwanzig Hiebe, hatte er befohlen. Keinen einzigen mehr. Und es sei wohl überflüssig zu erwähnen, sagte er, dass Sonam beim nächsten Fluchtversuch keine Gnade mehr zu erwarten hätte.
    Inzwischen lief Lhamo herbei und versuchte, Sonams Fesseln zu lösen. Ihre Hände zitterten derart, dass sie es nicht vermochte und ein Soldat ihr zu Hilfe kommen musste. Sie wollte die Schwester in die Arme nehmen, wagte es aber zunächst nicht, weil jede Berührung eine Qual für sie sein musste. Sonam kauerte am Boden, den Kopf auf den Knien; sie bewegte sich auch nicht, als sie frei war. Chang Lai befahl zwei Männern, Sonam in das Zelt zu tragen, das Lhamo mit ihr und zwei anderen Frauen teilte. Ich sah das alles aus der Ferne, unscharf, mit verklebten Augen. Keiner hatte sich um mich gekümmert noch mit mir gesprochen, obwohl ich doch ein Pionier war. Und das, was ich Lhamo gegenüber behauptet hatte, war auch falsch gewesen: zu sagen hatte ich nichts. Ich war es, der Sonam geschändet und sie der Folter ausgeliefert hatte. War das der Grund, der eigentliche Grund? Rächte ich mich dafür, dass ich ein Feigling war und Sonam nicht, und dass wir beide es wussten?
    Sie trugen Sonam fort, und währenddessen stapfte Chang Lai auf mich zu. Alle Chinesen trugen Schuhe mit Nägeln und hatten diesen schweren Gang. Ich setzte mich auf, kam mühsam wieder auf die Beine, den Geschmack meines Erbrochenen
im Mund. Er sagte: ›Kamerad, es war hart für dich, aber deine Schwester kennt nicht ihre Grenzen. Ihr Starrsinn musste gebrochen werden.‹
    Wahrhaft kluge Männer wie Chang Lai fanden immer die richtigen Worte, um die Form zu wahren oder den Anschein.
    Ich schluckte würgend, bis ich es mir von der Seele redete.
    ›Ich schäme mich sehr. Ich habe etwas Schlechtes getan.‹
    Er antwortete in nachsichtigem Tonfall.
    ›Wir müssen uns auf unsere Pflicht besinnen und allem einen höheren Wert beimessen. Ich lasse Sonam Verbandszeug bringen. Ihre Wunden werden heilen. Die Partei braucht junge Frauen wie sie.‹
    Ich streckte die schwitzenden Hände nach hinten, um sie am Uniformrücken abzuwischen. Worte saßen in mir wie dunkle Klumpen. Ich brachte sie nicht über die Lippen, sonst hätte ich mich wieder übergeben. Auf einmal legte mir Chang Lai - eine erstaunliche Geste - die Hand auf die Schulter.
    ›Kamerad, du hast deine Pflicht nüchtern und selbstlos erfüllt. Ich werde dem Kommandanten eine Meldung machen und dich für ein Bataillon vorschlagen, das morgen das Lager verlässt. Die Einheit soll ein Dorf erreichen, das wir als Treffpunkt für den Waffenschmuggel der Rebellen ausgemacht haben. Hier muss eine Säuberungsaktion stattfinden. Wir brauchen einen Dolmetscher, und du kannst uns helfen.‹
    Damals merkte ich gar nicht, was sie trieben, merkte gar nicht, worum es sich handelte. Heute weiß ich, dass man meine Falschheit und Prahlerei durchschaut hatte, meine Selbstsucht obendrein - sie waren übrigens recht leicht zu durchschauen. Die Partei hatte einen sechsten Sinn dafür, die richtigen Menschen für die richtige Aufgabe zu finden. Chang Lai oder - wahrscheinlicher - seine Vorgesetzten hatten meine Bereitschaft getestet, meine Bosheit wohl auch. Das zufriedenstellende Ergebnis hatte mir auf Sonams Kosten eine Beförderung eingebracht. Kinder von Aristokraten, die patriotischen
Eifer zeigten und sich im Dienst des Großen Plans nicht zu dumm anstellten, waren für die Partei von Nutzen. Deswegen hatte man auch Sonam noch eine Chance gelassen.
    Aber wie dachte ich damals darüber - falls ich überhaupt etwas dachte? Soviel ich mich entsinne, machte mich der Gunstbeweis noch unterwürfiger, noch hündischer. Ich war Chang Lai dankbar, weil er einen Teil meiner Probleme löste. Solange ich tat, was mir befohlen war, konnte ich quälenden Fragen entgehen. Andere dachten für mich, im Kopf ganz vorn, während Sonam - die Ärmste - nur im Hinterkopf dachte, wo alles ganz dunkel war und chaotisch. Warum war Sonam nicht wie ich fähig, aus einer Welt von Unvernunft

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