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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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das Haar zerzaust, in Lumpen gekleidet. Um ihren Hals trug sie immer noch die Kette mit den Dzi-Steinen. Die Chinesen nahmen allen Mädchen den Schmuck ab, aber so staubig, wie Sonam war, hatten sie die Kette wohl übersehen. Das Lederband war eng um ihren Hals gezogen, sodass man sich fragen konnte, wieso ihr nicht die Luft ausging.
    Mit Sonam konnte man nicht machen, was man wollte. Sie war es, die das Spiel angab. Sie schrie innerlich vor Wut, aber kein Wort der Klage drang über ihre Lippen. Sie hatte immer mit den Tieren gelebt; den Kräften der Natur war sie viel näher als Lhamo und ich. Und wie ein eingesperrtes Tier dachte sie nur an das eine: an Flucht.
    Sie vertraute sich mir an. Sie zweifelte nicht an meiner Redlichkeit, verstehst du? Sie glaubte, dass ich mich verstellte. Ihr eigener Geist war zu aufrichtig, um nicht in ihrem Bruder ihr eigenes Ebenbild zu erblicken. Sie konnte nicht bis zum Kern meiner Verworfenheit vordringen, mir nicht die Falschheit
von den Augen ablesen. Sie hatte ihren Plan gut vorbereitet, sich ein Säckchen Reis vom Mund abgespart. Die riesigen Entfernungen machten ihr keine Angst: Sie wollte über die Pässe nach Indien, zu den Eltern. Wir wussten ja damals noch nicht, dass beide inzwischen gestorben waren.
    Sonam sprach zu mir in leisem, vertrautem Ton, wie früher, wenn wir im Garten und in den Stallungen spielten. ›Wie können die im Ernst verlangen, dass wir so werden wie sie? Weißt du, Kelsang, was ich nicht vergessen werde? Dass sie Dakini getötet haben, mein Pferd. Dass sie Onkel An Yao zum Fluss brachten und du Tante Ling erschießen musstest, das war entsetzlich, abscheulich, grausam. Aber darin lag irgendwie ein Sinn; beide waren ja in ihren Augen Verräter gewesen. Aber als sie auf mein unschuldiges Tier schossen, einfach so, aus Spaß, da habe ich alles über sie begriffen. Alles! Sie standen nackt vor mir, und ich sah durch ihre Haut ihre schwarze Seele. Und alles, was ich später erlebt habe, beweist es mir: Sie sind Dämonen in Menschengestalt!‹
    Ich verstand nicht ganz den Sinn ihrer Worte. Sonam und ich waren nicht von derselben Art. Aber sie war meine Schwester, und ich liebte sie trotz allem. Ich wollte nicht, dass sie in ihr Verderben rannte.
    Der Lagerkommandant wohnte mit einigen Offizieren in einem Bunker. Er war zwar oft zu hören, denn er gab seine Befehle so laut wie möglich - er liebte das Laute -, aber man sah ihn fast immer nur aus der Distanz. Sein Name ist mir entfallen. Unser Gruppenaufseher indessen hieß Chang Lai. Die Härte, die er in verschiedenen Situationen an den Tag legte, entsprach wohl nicht ganz seinem Wesen. Er saß mit uns in der Klemme und langweilte sich, fühlte er sich doch zu Besserem berufen. Ich ging also zu ihm und erzählte, dass Sonam fliehen wollte. Das amüsierte ihn. Es war selten, dass Gefangene den Mut - oder die Kraft - zu einem Fluchtversuch aufbrachten. Chang Lai brach in lautes Lachen aus und sagte:
›Sie wird es nur einmal versuchen!‹ Und als Sonam in dieser Nacht unbemerkt aus dem Zelt schlich und das Lager verließ, schickte Chang Lai ein paar Männer hinter ihr her. Sie fanden sie schnell und brachten sie zurück. Chang Lai sagte, dass man sie diesmal nur milde bestrafen würde. Aber eine kleine Lektion müsste ihr schon erteilt werden.
    Danach riss man Sonam alle Kleider vom Leib. Vier Stunden lang musste sie auf dem vereisten See stehen, nackt an einen Pfahl gefesselt, während lachende Soldaten sie bewachten und einige Kinder aus dem Lager sie mit Dreck bewarfen. Dann wurden ihre Fesseln zerschnitten. Sie war am ganzen Körper blau; sie konnte sich nicht mehr bewegen, und wir dachten, sie würde es nicht überleben. Die Soldaten schleiften sie über das Eis; sie war von Kopf bis Fuß aufgeschürft. Chang Lai sagte zu Lhamo, sie sollte Sonam jetzt in eine Decke wickeln und ein Feuer anzünden, und ihr würde weiter nichts geschehen. Sonam war eine gute Arbeiterin, Disziplin würde sie schon lernen.
    Lhamo musste ihr gewaltsam den Mund öffnen, um ihr heißen Tee einzuflößen, so stark hatte sie die Zähne zusammengebissen. Sie war kalt, so kalt, und seltsam verfärbt. Ich hatte große Angst, ich dachte, sie würde sterben. Ich wollte nicht, dass sie starb. Ich wollte ja nur, dass sie Vernunft annahm. Ich verstand nicht, warum sie so war, ich war ihretwegen sehr traurig. Wir, die Jungkommunisten - ich zählte mich inzwischen dazu -, wollten ja nur das Beste für unser Land. Klug, wie Sonam war,

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