Das Haus der Tibeterin
sollte sie das doch einsehen. Hier, in unserer Heimat, entstand die herrlichste Sache der Welt, und meine Schwester verschwendete ihre schöne Tatkraft, bockte und machte alle Leute zornig. Es war richtig, dass sie bestraft wurde. Es gab viel schlimmere Strafen. Sonam würde sich erholen.
Und sie erholte sich. Ihr Körper musste über eine ganz erstaunliche Widerstandskraft verfügen. Ein paar Tage lang hatte sie hohes Fieber, und ihre Weigerung, Nahrung zu sich zu nehmen,
verschlimmerte ihren Zustand. Endlich gelang es Lhamo, ihr so weit zuzureden, dass sie aß und trank. Danach kam sie bald wieder zu Kräften. Das Leben im Arbeitslager hatte sie abgehärtet, sodass ihre Gesundheit keine bleibenden Schäden davontrug. Doch ihr Körper veränderte sich. Sie war klein und muskulös gewesen; jetzt war sie gewachsen, wurde lang gestreckt, sehnig. Ihr Gesicht war länglich, die Wangenknochen hart, die Brauen dicht. Ihre Augen deckte sie mit schweren Lidern zu, als wollte sie das Feuer in der Tiefe vor den forschenden Blicken schützen. Denn ihr Wille war keineswegs gebrochen. Etwas Wildes war in ihr, das nicht gebändigt werden konnte. Wenn sie weinte, dann vor Scham, weil die Soldaten sie nackt gesehen hatten, aber das machte, dass die Wildheit in ihr wuchs und wuchs. Am Anfang hatte sie nicht gewusst, dass ich sie verraten hatte; doch jemand sagte es ihr. Von da an sprach sie kaum noch mit mir. Sie wollte im Dunkeln ihrer Gefühle bleiben, kulturell rückständig, während ich zu denen gehörte, die die Zukunft erfanden. Im Lager hatten wir mit eigenen Händen eine kleine Schule gebaut, die wir abends, nach der Arbeit, besuchten. Die Lehrer waren äußerst streng, aber das war notwendig, weil wir ja falsche Gedanken hatten. Diejenigen von uns, die nicht richtig mitmachten - und Sonam gehörte dazu -, wurden geschlagen und mussten die Latrinen sauber machen. Ich fragte mich, warum Sonam das ertrug, warum sie kein Zeichen von Reue zeigte, nur sture, hassenswerte Bockigkeit. Ich wollte auch Lehrer werden, das arme, unterdrückte tibetische Volk mit den Gedanken Mao Tse-tungs vertraut machen. Aber ich war auch fähig, mit den Händen zu arbeiten, eine Hacke zu schwingen oder Steine zu schleppen. Ich sagte, dass ich mich später als Freiwilliger melden wollte, um das Leben der Bauern zu teilen und sie mit den großartigen Errungenschaften der Revolution vertraut zu machen. Die Han-Chinesen gingen nicht gern zu den Bauern, weil in China schon immer eine Kluft zwischen Stadt und Land bestanden
hatte. Die Jungkommunisten aus der Stadt waren nicht im Geringsten an körperliche Arbeit gewöhnt. Ich ging mit gutem Beispiel voran, meldete mich freiwillig für das Ausbaggern im Fluss, für den Brückenbau, für den Bau eines Hauses für unsere geliebten Gruppenführer. Meine Begeisterung war echt, und ich wurde gelobt. Ich gehörte bereits zur ersten Generation tibetischer Pioniere. Man sagte zu mir: ›Die Zukunft des Kommunismus braucht Menschen wie dich!‹ Diese Anerkennung machte mich froh. Der Vorsitzende Mao hatte allen jungen Pionieren erlaubt, gegen die alte Ordnung und die alten Werte zu rebellieren; ich begriff nicht, dass meine junge Schwester noch an ihnen hing. Mein Herz war glücklich und frei, ich bekam eine saubere Uniform und jeden Tag gutes Essen.
Sonam indessen, schmutzig, verstaubt und nach Latrine stinkend, war taub für die großartigen Wahrheiten, die mich längst erobert hatten. Ich fand, sie war nicht mehr ernst zu nehmen. Einmal machte sie mich sehr böse, weil sie zu mir sagte, ich sei eine kleine rote Ameise, die für Mao Tse-tung im Dreck krabbelte.
›Wie kannst du nur so stur sein?‹, entgegnete ich beleidigt. ›Es ist gegen deine soziale Erziehung. Du bist immer noch größenwahnsinnig und verachtest das Volk.‹
›Ich putze Latrinen für das Volk‹, zischte sie, ›aber ich bewahre mir die Freiheit zu denken!‹
Ich war sehr traurig ihretwegen. Wenn sie doch etwas mehr aus ihrer vereitelten Flucht gelernt hätte! Kann sein, dass sie einfach nicht anders denken konnte. ›Sie haben mein Pferd getötet‹, wiederholte sie oft, und ich begriff überhaupt nicht, warum sie einem Tier so viel Bedeutung beimaß.
Eines Tages sagte Lhamo leise und mit einem Seitenblick zu mir: ›Sie will wieder fliehen.‹ Fast zwei Jahre waren seit ihrem ersten Versuch vergangen. Ich starrte Lhamo erschrocken an und sagte: ›Ich kann das kaum glauben. Hat sie denn den Verstand verloren?‹
Lhamo zog die
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