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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Schultern hoch.
    ›Sie ist eben so.‹
    ›Wir können sie nicht gehen lassen, Lhamo. Sie muss beschützt werden!‹
    ›Sie will nicht beschützt werden. Sie sagt, dass sie hier sitzt und auf den Tod wartet. Sie will weg!‹
    Ich verstand meine Schwester überhaupt nicht. Das Lager war inzwischen zu einem kleinen Dorf angewachsen. Als die Brücke fertig war, kamen viele Han-Chinesen und siedelten sich hier an. Sie waren fleißig und arbeitsam und ein großes Vorbild für mich. Wir waren gut organisiert: Lautsprecher verkündeten unseren Tagesablauf. Jeden Morgen wurde die Fahne gehisst, die Hymne des Neuen China erklang. Die Musik schallte beschwingt und fröhlich durch das Tal, das Echo warf die Akkorde zurück. Die Namenslisten für die Tagesarbeit wurden durchgegeben. Die Aufgerufenen schlossen sich zu Kolonnen zusammen und gingen zum Straßenbau. Die neuen Gefangenen, die rebellisch waren oder sich noch nicht einordneten, wurden hinter Stacheldraht gehalten. Sie taten mir leid. Ihre hageren Gesichter waren von Hoffnungslosigkeit gezeichnet, und sie glaubten, dass es wenig Aussicht auf bessere Tage in der Zukunft gab. Oft kam es mir in den Sinn, zu sagen: ›Auch ich war einmal dort, wo ihr jetzt seid, und seht mich an, wie glücklich ich jetzt bin!‹ Doch sah ich ihnen in die Augen, dann war da nichts, zu dem ich hätte sprechen können. Ihre Geister waren im Mittelalter gefangen. Ach, was hatten die Menschen in vergangenen Zeiten nur mit ihrer Frömmigkeit angerichtet? Sie hätten doch einsehen müssen, dass es Ammenmärchen waren! Der Glaube war nichts als Falschmünzerei! Wir, die Jungkommunisten, konnten stolz und zufrieden sein: Wir waren aufgeklärt!«

VIERUNDDREISSIGSTES KAPITEL
    S onams Verachtung«, sagte Kelsang, »saß tief in meinem Fleisch, wie ein giftiger Stachel. Die Partei zwang uns Gehorsam auf, das war gut. Gehorsam war Tugend auf der untersten Ebene. Dort mussten wir beginnen, weil wir Kinder waren und Kinder eben dort anfingen, das Leben zu begreifen. Obschon ich Pionier war und folglich auf einer höheren Stufe, konnte ich ihre Kompromisslosigkeit nicht ändern, und das raubte mir die Fassung. Ich versuchte vergeblich, mit Sonam zu reden. Sie starrte an mir vorbei, in sich gekehrt, im Panzer ihrer Sturheit. Den konnte ich nicht durchdringen; darum trug ich Lhamo auf, sie gut zu bewachen. Ich selbst schlief ja jetzt bei den Pionieren. Und eines Morgens, kurz bevor die Lautsprecher zum Frühsport aufriefen, stand Lhamo vor unserem Zelt und rief nach mir.
    ›Kelsang, sie ist fort!‹
    Ich war außer mir.
    ›Du hast nicht aufgepasst!‹
    ›Ich war müde‹, sagte sie schuldbewusst, ›ich habe geschlafen! ‹
    Ich hätte sie am liebsten verprügelt.
    ›Ich muss das sofort melden!‹
    Lhamo zeigte wirkliche Furcht.
    ›Nein, Kelsang, nein, lass sie gehen!‹
    ›Bist du wahnsinnig?‹, zischte ich. ›Auf den Pässen liegt Schnee. Sie wird an Hunger und Kälte sterben!‹
    Lhamo packte mich, hielt mich fest.

    ›Ich will nicht, dass sie gefoltert wird!‹
    Ich riss mich von ihr los.
    ›Keiner wird sie foltern!‹, erwiderte ich und glaubte jedes Wort, das ich sagte. ›Ich bin ein Pionier! Ich werde sie beschützen. ‹
    Ich konnte es nicht hinnehmen, sie zu verlieren; ich wäre dabei verrückt geworden. Gelang ihr die Flucht, war mein Leben - unser aller Leben - ohne Sinn. Jenseits der Partei durfte keine andere Ordnung in der Welt bestehen. Die Partei war streng und visionär, die Partei gab Sicherheit. An der Peripherie der Partei lauerte das Chaos. Ich rannte zu Chang Lai, der wütend und verschlafen aus seinem Quartier stapfte und Befehle gab. Soldaten machten sich auf die Suche nach Sonam und fanden sie, als die Sonne aufging. Sie hatte keine Stiefel, sie war barfuß, kleine Steinchen hatten sich in ihren Fußsohlen verkrustet, sodass sie nicht schnell genug laufen konnte. Wieder wurde sie gefasst und ins Lager geschleppt. Sie war todmüde, aufgelöst und humpelte. Die Fahne war schon gehisst und flatterte im Wind. Die Gefangenen hinter dem Stacheldraht sahen still zu. Die Kälte, die ihren Atem gefrieren ließ, schien wie eine weiße Decke über den schweigenden Gestalten zu liegen. Die Soldaten schleiften Sonam vor den Aufseher und stießen sie mit Gewehrkolben zu Boden. Sie hatte Chang Lai um eine Stunde Schlaf gebracht, was ihn reizbar machte. Aber er lächelte - zumindest schien es mir so, weil er seine Mundpartie verzog.
    ›Warum schon wieder?‹, fragte er.
    Es hörte sich

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