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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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in eine Welt von neuer Bedeutung zu entkommen, in eine Welt von strahlend leuchtendem Glanz?
    Chang Lai hatte mich da, wo er mich haben wollte. Er war mein einziger, wirklicher Freund. Ich war ihm sehr dankbar, artikulierte es aber nicht, das wäre ein großer Fehler gewesen. Im neuen China waren Bitte und Danke Wörter der alten, verhassten Bourgeoisie; wer sie gebrauchte, entlarvte sich als Reaktionär und wurde bestraft.

FÜNFUNDDREISSIGSTES KAPITEL
    E in Lastwagen holte uns am nächsten Morgen. Mir blieb kaum Zeit, nach Sonam zu fragen. Lhamos Stimme, als sie mir Antwort gab, war leise und kalt. Sonam lag im Fieber. Die Peitsche hatte immer wieder den schmutzigen Boden gestreift, und die Wunden waren entzündet. ›Sie erkennt niemanden, nicht einmal mich‹, sagte Lhamo, die Augen gesenkt. ›Ich weiß nicht, ob sie am Leben bleibt.‹
    Das Herz zog sich mir zusammen. Ich stammelte: ›Mach, dass sie gesund wird.‹
    Sie brachte es nicht fertig, die Augen zu heben; ihre knochigen Hände waren in Taillenhöhe gefaltet. Ihre Kleidung war besser als meine, sauber und gepflegt.
    ›Wozu? Sie will sterben.‹
    Unsicher, mit schlechtem Gewissen, versuchte ich mich zu rechtfertigen.
    ›Versteht sie denn nicht, dass ich sie gerettet habe? Warum ist sie mir böse?‹
    ›Böse?‹
    Lhamo zog die Silben, als wollte sie fragen, ob ich wahnsinnig sei. Dann brach sie in kicherndes Gelächter aus; es hörte sich schrecklich an, dieses Gelächter voller Schmerz und Hohn.
    ›Das wäre Zeitverschwendung!‹
    Ich setzte mit Anstrengung eine hochmütige Miene auf.
    ›Ich diene der Partei. Ich habe getan, was ich tun musste.‹
    Sie verzog verächtlich den Mund.

    ›Ja, und die Partei weiß, von wem sie Treue fordern kann und von wem Verlogenheit.‹
    Ich begann zu zittern und sagte: ›Ich habe das alles nicht gewollt. ‹
    Ihr Gelächter erlosch. Sie streifte mich mit einem umflorten Blick.
    ›Ich kann nicht sagen, wen ich am meisten verabscheue, dich oder mich, weil ich dir geglaubt habe. Ich möchte nur, dass du es weißt‹, setzte sie mit Nachdruck hinzu, bevor sie mir den Rücken zuwandte und in dem Zelt verschwand, das alt und zerschlissen war, schmutzig und armselig. Das Zelt, in dem Sonam im Sterben lag.
    Der Lastwagen stand schon bereit. Man drückte mir eine rote Fahne in die Hand, die sich im scharfen Wind lustig blähte. Wir waren etwa fünfzehn Leute. Zwei Soldatinnen waren auch dabei, die abwechselnd Akkordeon spielten. Die Pioniere sangen dazu und schlugen mit den Kolben ihrer Gewehre auf dem Boden des Lastwagens den Takt. Es war Frühjahr, aber es war diesig, und in den Hochtälern lag Schnee. Ich sang und scherzte mit den anderen. Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich das Lager verließ. Ein großer Vertrauensbeweis! Ich wollte fröhlich sein.
    Der Winter war hart gewesen, und die Berge trugen noch ihre Schneelast. Die Straße war gefroren; wir hatten mehrere Pannen und mussten Reifen wechseln, sodass wir langsamer als geplant vorwärts kamen. Am zweiten Reisetag, als die Straße am Berghang höher stieg, kam dichter Nebel auf. Es dunkelte bereits; die Strecke wand sich in vielen Kurven durch die Hochwälder. Weil uns der Nebel jede Sicht nahm, wurde beschlossen, frühzeitig das Lager aufzuschlagen. Der Lastwagen hielt an. Wir stiegen einen kleinen Hang hinauf, auf der Suche nach einem günstigen Lagerplatz, und fanden ihn auch. Eine hohe Granitwand, noch mit Schnee bedeckt, hielt den feuchten Wind ab, der Tauwetter brachte. Die Nebel zogen daran
vorbei, wie Rauchschwaden, ohne einen Schub klarer Luft. Wir bewegten uns - zumindest schien es so - in einem völligen Niemandsland. Der Nebel stand unter den Bäumen wie eine weiße Wand. Doch als wir die Zelte aufstellten und das Feuer brannte, fühlten wir uns besser. Wir drängten uns aneinander, hielten die klammen Hände über die Flammen, stärkten uns mit Reis, Trockenfleisch und Tee. Ich aß gierig wie alle anderen - wir waren unentwegt auf Nahrung erpicht -, aber in meinem Geist gingen sonderbare Dinge vor, und mein Magen war verkrampft. Das feuchte Holz knisterte und rauchte stark, und von der Erde stiegen modrige Gerüche auf. Der Nebel war dicht und einförmig, alle Gestalten schienen darin zu fließen, wenn sie gingen, oder sahen seltsam verstümmelt aus, wenn sie sich setzten. Dass ich allmählich still wurde, merkten die Kameraden nicht. Mit halbem Ohr hörte ich zu, wie sie sich schmutzige Scherzworte zuwarfen, wie sie gähnten und rülpsten,

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