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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Nebel ein schwaches Licht aus, sodass auf dem Dunst ein fliegender Schatten wehte, noch befremdlicher als die Dunkelheit selbst. Und mit einem Mal erkannte ich, dass der fliegende Schatten meine Seele war, die sich voller Abscheu aus meinem Körper gelöst hatte, um fernab von mir weiter zu bestehen. Ja, und was würde aus mir? Ich konnte doch ohne Seele nicht leben! Ich streckte die Arme nach ihr aus, und sie tat das Gleiche, aber wir berührten uns nicht, wir waren getrennt, denn zwischen uns flossen Schatten, die kalt waren und stanken. Ich schlug wild um mich, versuchte meine Seele zu packen, festzuhalten, von dem einzigen Gefühl besessen, sie wieder einzufangen. Mein verzweifelter
Kampf war auf der Nebelwand sichtbar, meine Arme bewegten sich und zuckten, und die Seele bewegte ihrerseits die Arme, hastete an mir vorbei, entfernte sich. Ein letztes Mal griff ich vergeblich nach ihr, sah nichts als einen milchigen Schein. Plötzlich verfingen sich meine Füße in irgendeinem Gestrüpp. Ich verlor das Gleichgewicht und stürzte, rollte eine kleine Strecke über den Hang und schlug gegen einen Felsen. Der Aufprall löste eine Art Explosion in mir aus, ein Reißen und Knirschen und Splittern, die ich bis ins Rückenmark spürte. Seltsam war, dass ich keinen Schmerz dabei empfand, nur eine Steifheit im Unterleib, und mir war übel. Einige Atemzüge lang lag ich benommen da, bevor ich wieder zu mir kam und mich mit krallenden Händen emporkämpfte. Ich rutschte ein paar Mal ab, schlug mit dem Kopf an eine vorspringende Kante, dass die Haut aufplatzte. Endlich bekam ich mein Gesicht über den Rand des Steins hinaus. Da sah ich in knapper Entfernung und hoch über mir eine riesige Gestalt. Hinten im Dunkel gegen eine Felswand war sie gelehnt, blickte starr und streng auf mich herab. Ich wusste natürlich, wer sie war, und meine klappernden Zähne formten ihren Namen.
    ›Der Große Steuermann!‹
    Eine letzte Anstrengung riss mich hoch, sodass ich halbwegs auf die Beine kam. An den Stein geklammert, schrie ich meine Wut heraus, schrie gegen ihn, gegen sie alle, kreischte und geiferte und verfluchte jene, die mich in die Irre geführt, meine Seele geraubt hatten. Und als mein Geschrei endlich nachließ und mir klar wurde, dass ich den unteren Teil meines Körpers nicht bewegen konnte, da liefen mir die Tränen, mit dem Blut aus der Kopfwunde vermischt, über die Wangen und in den Mund. Jede Wärme, jede Kraft zog sich aus mir zurück. Meine Haut verwandelte sich in eine graue, tote Hülle, bis ich nicht den geringsten Unterschied zu finden vermochte zwischen den toten Leibern der Mönche und
dem meinen, der jetzt erkaltete. Und als ich an dem Felsen entlangrutschte, wurde ich ihnen noch ähnlicher, denn ich lag da, mit den Augen ins Leere starrend, bis mir die Lider zufielen und ich mit langsamem Pulsschlag ohnmächtig wurde.

SECHSUNDDREISSIGSTES KAPITEL
    D as erste Morgenlicht weckte mich. Ob wir erschöpft waren oder nicht, es war jedes Mal die Zeit, da im Lager die Lautsprecher den Fahnengruß und den Frühsport verkündeten. Seit Jahren war mir dieser Ablauf in Fleisch und Blut übergegangen, sodass ich automatisch die Augen aufschlug. Doch das übliche Scheppern blieb aus, die Lautsprecher schwiegen. Und überhaupt, nichts war wie sonst.
    Dumpf kehrte die Erinnerung zurück, doch alles war wirr, wie im Fiebertraum. Ich hatte irgendwo Leichen gesehen und Angst bekommen, was sehr töricht war, denn Tote sind harmlos. Daraufhin war mir der Vorsitzende Mao Tse-tung erschienen und hatte mich tadelnd an meine Pflicht erinnert. Und ich, was hatte ich getan? Ihn angespuckt und verwünscht? Wie furchtbar, wie beschämend! Das durfte niemand erfahren, vor allem die Kameraden nicht, sonst würden sie Meldung machen müssen, wie ich es ja auch getan hätte! Wo waren sie überhaupt? Sie suchten gewiss nach mir. Ich wollte die Beine bewegen, dabei zuckte ein so unerträglicher Schmerz durch mein Rückgrat, dass ich nicht anders konnte, als mit meinem ganzen Gewicht zurückzufallen. Doch irgendwie war es mir gelungen, etwas höher zu rutschen, sodass ich hinter den Felsen blicken konnte. Und da wagte ich kaum zu glauben, was ich sah. Der Große Steuermann starrte auf mich herab und war so hoch wie zehn Menschen übereinander.
    Ich schloss die Augen, hoffend, dass das Bild sich in nichts auflösen würde. Vorsichtig öffnete ich sie wieder. Nein, es war
kein Fiebertraum gewesen! Das Bild war nach wie vor da. Und außerdem war es

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